24. Juni
Im Zipfelbund sind neben List auf Sylt im Norden und Oberstdorf im Süden auch Selfkant im Westen und Görlitz im Osten Mitglieder. Von Nord nach Süd war letztes Jahr; dieses Jahr ist die Tour von West nach Osten. Nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad.
Als einer meiner Nachbarn von dem Unternehmen hört, fragt er etwas entsetzt: "Mit deinem alten Rad?" "Ja klar!" antworte ich. "Das funktioniert seit über 30 Jahren tadellos - und bekommt als Retro-Bike immer wieder Komplimente."
Es wird allerdings direkt vor Reiseantritt noch spannend: bereits letzten Dienstag habe ich das Rad zur Generalüberholung zur Werkstatt gebracht. Gestern, am Tag vor der Abfahrt, kam bis 14 Uhr noch keine Information darüber, dass das Fahrrad fertig wäre. Auf gut Glück bringt Anita mich in die Werkstatt, die leider aus der Stadtmitte ins Industriegebiet gezogen ist. Dort sehe ich mein Fahrrad stehen - und mir schwant: Es wurde noch nichts gemacht. Ich gehe in Gedanken durch, was das für mich heißt: Das Hotel in Aachen ist nicht kostenlos stornierbar, der Zug ebenso wenig, und auf meine zweite Unterkunft in Roermond nicht. Außerdem überlege ich, ich mein Missfallen höflich zum Ausdruck bringen kann. Trotz des etwas erhöhten Blutdrucks. Am Ende zeigt sich, dass all diese Gedanken unnötig sind: Das Rad ist zum Glück fertig!
Also sitze ich heute im Zug, zunächst nach Stuttgart. Ich erwische gerade noch einen dieser schnellen Regionalexpresse, der ohne Stop nach Stuttgart fährt. Zwei mitreißende haben das offensichtlich nicht mitbekommen und dachten, sie könnten in Wendlingen aussteigen: ein deutscher Fahrgast und einer, der überhaupt kein Deutsch zu sprechen scheint. Trotzdem unterhalten sie sich perfekt: Über die Übersetzungsfunktion ihrer Handys! Ein Lob auf die Technik!
Wo die Technik allerdings wenigstens teilweise zu versagen scheint, ist während der Fahrt von Stuttgart nach Köln. Mit dem Ergebnis, dass ich über eine Stunde zu spät in Köln ankomme, den Anschluss deutlich verpasse, statt eines ICEs eine Regionalbahn nehme und daher ganze zwei Stunden später als geplant in Aachen ankomme.
Mein erster Weg führt mich in einen Fahrradladen. Ich dachte, ich bin clever und nehme nur meinen Hausschlüssel mit. Alle anderen Schlüssel lasse ich zu Hause. Also liegt jetzt auch der Fahrradschlüssel zu Hause. Ergebnis: ich bin jetzt stolzer Besitzer eines Kettenschlosses, das alleine wegen seines Gewichtes niemand klauen kann. Dafür fällt die Besichtigung von Aachen heute aus, das wartet bis morgen...
25 Juni
Als ich mich nach dem Frühstück daran mache, mein Fahrrad zu beladen, denke ich an die vier jungen Männer, die ich gestern im Zug beobachten und deren Gespräch ich mit anhören konnte. "Jung" heißt dabei: Mitte 20. Sie waren wohl auch mit dem Fahrrad unterwegs, drei von ihnen gemeinsam. Eine Woche vielleicht auch zwei. Angesichts ihrer Ausrüstung komme ich mir wie ein Hinterwäldler vor: Carbonräder, winzige Täschchen, viel weniger Gepäck als ich es dabei habe. Und trotzdem haben sie Zelte und Schlafsäcke mit. Ihre jeweilige gesamte Habe wiegt wahrscheinlich deutlich weniger als alleine mein Fahrrad. Ohne Gepäck versteht sich.
Und tatsächlich: Bei der ersten kleinen Steigung merke ich das zusätzliche Gewicht deutlich. Und ich merke auch, dass ich noch keine richtige Routine beim Packen habe: Was soll wohin? Wie sortiere ich was? Was brauche ich wann? Und ich merke auch: Das zusätzliche Gewicht erschwert das Geradeausfahren etwas, ich schwanke deutlich. Sei's drum ...
Erster Stopp heute: Aachen. Innenstadt, Dom. Unbedingt sehenswert, auch wenn für das Fotografieren um einen Euro gebeten wird. Ich nehme mir nicht genug Zeit für den Rest der Stadt und komme hoffentlich mal etwas ausführlicher her.
Das Radfahren ist hier recht angenehm. Gute Fahrradwege sind die Regel, und die Autofahrer nehmen Rücksicht.
Was mir schnell auffällt: an vielen Fotomotiven fahre ich vorbei, ich will einfach nicht dauernd anhalten. Das war beim Wandern letztes Jahr deutlich anders weil einfacher.
Nach etwa 15 Kilometern sehe ich einen Polizei-VW-Bus am linken Straßenrand stehen, scheinbar mitten im Nirgendwo. Dann entdecke ich, dass ich unmittelbar vor der Grenze in die Niederlande bin. Damit ist klar: Die Polizisten sind auf Wunsch von Herrn Dobrindt hier ...
In Heeren setze ich mich unter Palmen in ein Café und genieße den ersten Etappen-Cappuccino. Es ist richtig nett hier, auch wenn der Radweg entlang einer gut befahrenen Straße verläuft.
Auch mit meinem Tempo bin ich zufrieden: Eine gute Stunde habe ich für die 20 Kilometer gebraucht.
Nach der Pause geht es weiter, bis ich von einer roten Ampel angehalten werde. Komisch finde ich, dass nur ein Fußgängersymbol auf der Ampel zu sehen ist, obwohl ich eindeutig auf einem Radweg unterwegs bin. Die Ampel bleibt rot, während die Autos sich schon an der zweiten Grünphase erfreuen. Ich sehe keinen Drücker für diese Fußgängerampel. Irgendwann entdecke ich rechts neben und etwas hinter mir eine kleinere Ampel. Die zeigt ein rotes Fahrrad. Aha...!? Ich warte, aber es grünt nicht. Dann folgt die zweite Entdeckung: Noch etwas weiter hinter mir steht erwartungsvoll der Drücker für die radlerampel. Ah, so geht das hier!
Der Weg wird schöner, durch Felder und kleine Dörfer. Und plötzlich sind die Schilder wieder auf Deutsch, ganz ohne Polizei. Nicht einmal ein Hinweisschild, wie sie sonst an den Grenzen stehen, kann ich erkennen. Ich liebe Schengen!
Die Gemeinde Selfkant kündigt sich an. Jetzt kann es nicht mehr weit sein.
Wer Abgeschiedenheit und große, schöne Häuser mit Parkgrundstück sucht, wird hier sicher fündig.
Das erste Hinweisschild zum westlichsten Punkt des Landes taucht auf, etwas später das zweite. Jetzt habe ich nach 46 Kilometern und zwei Stunden und 40 Minuten den "offiziellen" Start meiner Tour erreicht. Es ist schon seltsam, dass an diesen äußeren Punkten der Republik so wenig los ist. Ich mache ein paar Fotos und eine halbe Stunde Dösepause auf dem Gras im Schatten eines Baumes.
Es ist witzig: Wandernd waren 25 Kilometer eine Tagesetappe, völlig ausreichend. Und jeder Schritt jenseits der 30-Kilometer-Grenze war richtig anstrengend. Mit dem Rad sind 30 km gerade einmal zwei Stunden. Wenigstens hier auf der Ebene. Wahrscheinlich sollte ich auf meinen Hintern hören und mehr auf die Zeit als auf die Strecke achten: Heute Abend jedenfalls teilt er mir mit, dass er den Sattel wohl nicht länger als vier Stunden spüren mag.
Nach Roermond sind es noch 20 Kilometer, teils übers Land, teils durch Dörfer, größtenteils an einer Bundesstraße entlang. Zum Glück sind die Radwege in den Niederlanden noch besser als um Aachen.
Meine Unterkunft, ein Bed and Breakfast in der Stadtmitte, finde ich nach fleißigem suchen - und erlebe eine kleine Enttäuschung: Frühstück gibt es erst ab 9 Uhr. Das ist mir zu spät, da will ich schon eine Weile unterwegs sein. Ich habe morgen 70 km vor mir. Ich berate mich mit mir und komme zu dem Schluss, dass das eigentlich gar nicht so schlecht ist. Ich beschließe, vor einem Frühstück erstmal eine Weile zu fahren, und dann einen Wecker aufzusuchen, der laut Navi fast auf der Strecke liegt.
Dann "erobere" ich Roermund. Sehr nett mit einer verkehrsberuhigten Innenstadt, einigem Grün, vielen Kneipen, Cafés und Restaurants. Nach einem Spaziergang entscheide ich mich für ein Restaurant, das war nicht sehr ruhig an einer Straße liegt, aber die erhoffte indonesische Küche anbietet. Fabelhaft! Ich hoffe auf Gutes und Reichhaltiges: Seit dem Frühstück - und das war früh - habe ich nichts gegessen.
Gerade fällt mir auf: Wir sind heute dem nächsten Weihnachten genauso weit entfernt, wie dem letzten...
26. Juni
Das Abendessen gestern war tatsächlich lecker und reichhaltig, und hat ganz schön lange auf sich warten lassen. Vielleicht, weil ich nichts zu trinken bestellt hatte?
Heute stehe ich wieder früh auf und bin um 7: 30 Uhr abfahrbereit. Was mich aufhält ist das Schwätzchen mit dem Besitzer des Bed & Breakfast. Er entschuldigt sich, dass er gestern nicht da war, um mich zu empfangen, und erzählt auch gleich, warum. Er war mit seiner Tochter im Krankenhaus. Sie leidet an einer sehr seltenen Krankheit. Normalerweise werden Menschen mit dieser Krankheit höchstens 14 oder 15 Jahre alt. Seine Tochter ist bereits 30! Die Ärzte wollen natürlich wissen, wie werden konnte. Daher der gestrige Besuch. Anscheinend passen sie extrem auf die Ernährung auf. So darf die Tochter z. B keinerlei Laktose zu sich nehmen. Das geht weit über die übliche Laktoseintoleranz hinaus. So weit, dass sie die natürliche Brustfunktion, Milch zu erzeugen, unterdrücken. Sie würde sonst von ihrer eigenen Milch vergiftet werden. Wieder einmal bin ich froh, einigermaßen gesund zu sein.
Über die Radwege stelle ich fest: Sie sind in den Niederlanden, soweit ich das kennengelernt habe, deutlich besser als in Deutschland: Breiter, getrennt von Gehwegen, solider angelegt. Und noch einen Riesenunterschied gibt es zwischen dem Fahrradfahren in Deutschland und in den Niederlanden: Gestern habe ich mich darüber gefreut, dass mir Autos die Vorfahrt ließen. Heute merke ich: das gehört hier zu den Verkehrsregeln, Radler haben Vorfahrt!
Ein Deja-Vu habe ich, als es zu regnen anfängt. Auch letztes Jahr hat mich der Regen bereits am zweiten Tag erwischt. Heute sehe ich allerdings auf dem Regenradar, dass es nur ein halbstündiger Schauer ist den warte ich unter dem Dach einer Bushaltestelle ab und nutze die Zeit, um mit Anita zu telefonieren. Es wäre uns beiden deutlich lieber, wäre sie jetzt hier.
Bis sie schließlich weiter radle, ist die Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland für mich wieder kaum bemerkbar. Nur, weil ich die Bilder an der Straße die parallel zu meinem Weg läuft, sehe, weiß ich, dass ich sie passiert habe.
Ich fahre wieder durch viele Städte und Dörfer wenig Grün und wenig Felder. Eines dieser Felder überrascht mich dann aber doch: Ich erkenne Hanfpflanzen! Und die tatsächlich der Gewinnung von Cannabis / Gras als Rauschmittel dienen oder ob andere Produkte - Kleidung oder ähnliches - daraus hergestellt werden, kann ich natürlich nicht sagen. Was ich jedoch sicher weiß: ich habe noch nie vorher eine Hanfplantage gesehen. Und dann zieht noch eine an mir vorbei. Und noch eine.
Nicht mehr am Boden erlebe ich eine Premiere ( eben diese Hanfplantagen), sondern auch in der Luft. Ein Windrad steht still, weil sich ein Techniker von dort oben gerade abseilt. Jetzt zeigt sich deutlich, dass ich länger brauche, um ein Foto zu schießen: Als ich soweit bin, dass ich auf den Auslöser drücken kann, ist der Mensch schon fast wieder verschwunden.
Ich werfe einen Blick zurück. Spektakulär türmen sich dunkle Wolken. Aber mehr als ein paar harmlose Tropfen bekomme ich diesmal nicht. Apropos Wetter: heute ist es deutlich kühler, die Sonne lässt sich nur ab und zu blicken. "Kühler" heißt, dass es statt der gestrigen 30° nur noch etwa 20 hat. Drohte nicht ständig Niederschlag, wäre das Wetter ideal für eine Fahrradtour. Gut, etwas weniger Wind wäre nett... Morgen soll es ähnlich werden, dann sollen die Temperaturen wieder explodieren.
Schließlich komme ich in Düsseldorf an und habe Vater Rhein in voller Größe vor mir. 2 km geht es noch an der Promenade lang, dann bin ich bald in der Jugendherberge, wo ich sehr freundlich empfangen werde. Ich habe mein Glück mal wieder herausgefordert und ein Bett in einem Mehrbettzimmer gebucht. Diesmal sind zwei der vier Betten leider schon belegt, mindestens einen der Mitbewohner rieche ich trotz des offenen Fensters. Na gut, meine Schuhe können auch etwas!
Ich frage Maria, dir den Empfang übernimmt, was ich mir in Düsseldorf ansehen sollte. "die Rheinpromenade", ist die etwas enttäuschende Antwort. Nachgeschoben werden die Altstadt und die Kö, also die Königsallee. Die Informationen finde ich etwas ernüchternd. Ich vernasche ein Pfund Erdbeeren und gehe nach einem Einkauf - Obst, Nüsse, Sushi, Mülltüten - ins Filmmuseum. Ist ganz nett, haut mich aber auch nicht um. Also schreibe ich den Text für den Blog in einem Café, das einer Rösterei angegliedert ist, und plane die nächsten Etappen.
Mal sehen, was der Abend noch so bringt.
27. Juni
Ich frage mich, welchen evolutionären Sinn das Schnarchen hat. Wurden so bestimmte Zeitgenossen aus dem Genpool genommen, weil der Säbelzahntiger sie leichter fand? Jedenfalls hielt mich gestern Abend Zimmer genossen er ist durch sein Schnarchen wach und dann dadurch, dass er nach seinem Aufwachen recht rücksichtslos Lärm und Licht machte. Ich glaube, er war stockbetrunken, was dadurch untermauert wurde, dass er irgendetwas mit einigen leeren Flaschen veranstaltet hat, so dass sie lautstark klirten. Als Licht und Lärm beendet waren, tat das harte Bett - ich lag gefühlt direkt auf dem Brett unter der Matratze - das einige, nicht schlecht schlafen zu lassen.
Wie viel brachte der Abend gestern übrigens nicht mehr. Vor allem nicht ein Mehr ein Sympathie für die Stadt Düsseldorf. Das ändert sich auch heute morgen nicht, als ich mit dem Fahrrad quer durchfahre. Es ist für mich reiner Stress. Zugegeben: Dafür, dass ich die Jugendherberge erst zweimal umkreise, bevor ich den richtigen Weg finde, kann Düsseldorf nichts. Aber dafür, dass die Radwege zum großen Teil schlecht oder überhaupt nicht vorhanden sind, schon. Warum nehmen sich deutsche Stadtväter nicht ein Beispiel an den Niederlanden? Gut 10 Kilometer fahre ich durch den Ort, bis ich draußen bin. Für mich bedeuten diese 10 Kilometer volle Konzentration: wo ist mein Weg? Was machen die anderen Verkehrsteilnehmer - Autos, Laster, Busse, Fußgänger, Scooter? Ich habe das Gefüh, dass ich für alle mitdenken muss. Außerdem lauern überall Glasscherben auf meine Reifen. Es ist anstrengend, und es wird heute weit gehen so bleiben. Bis auf vielleicht 20 Kilometer sind die Radwege Pflicht schlecht.
Allein um Wuppertal herum sticht ein Weg heraus. Dazu später mehr, erstmal erfülle ich mir einen kleinen Kindheitswunsch: Seit ich die Geschichte des Elefanten Tuffi aufgeschnappt hatte will ich mit der Schwebebahn fahren. Fast genau auf den Tag vor 75 Jahren sprang zu viel aus der Schwebebahn. Und hat überlebt. Fand die Geschichte schon immer witzig, deshalb fahre ich heute mit der Schwebebahn. Und wieder einmal macht es die DeutschlandCard einfach.
Schon das Einsteigen ist anders als in z. B eine Straßenbahn, denn da die Bahn hängt, schwankt sie auch ein wenig. Dann geht es zwischen den Häusern auf Höhe des zweiten Stockwerks durch Wuppertal. Ich fahre nur drei oder vier Stationen weit und dann wieder zurück, das reicht mir.
Der Radweg, von dem vorhin schon die Rede war, ist sehr schön angelegt, und man kommt schnell voran. Bei einer Pause lerne ich einen winheimischen Radler kennen, der mich nicht nur darüber aufklärt, das Wuppertal nicht sehenswert ist - das hat er mir mein Vater auch schon gesagt, und die Fahrt mit der Bahn bestätigte mir das - sondern auch über die Geschichte eben dieses Nordtrassenradwegs. Früher war das einmal eine Zugstrecke, die stillgelegt wurde und lange nach lag. Eine private Initiative baute dann den Radweg. Er ist in ausgezeichnetem Zustand, es fahren dort keine Autos, und die Fußgänger haben einen eigenen breiten Streifen für sich. Was die Stadt nicht geschafft hat, schufen Freiwillige ehrenamtlich.
Wir unterhalten uns noch ein wenig und brechen dann auf. Wird es radeln wirklich zum Genuss. Tunnel wechseln sich mit Galerien ab, es gibt immer etwas zu sehen.
Hagen ist die nächste größere Stadt. Eigentlich hatte ich auf einen Dachgeber gehofft, bin aber doch sehr froh, dass das nicht klappt: Hagen erobert mühelos einen Platz auf meiner Liste der Städte, die man nicht besucht.
Dafür ist der Zeltplatz etwas außerhalb sehr schön. Nur der Weg, den das Navi mich führt, treibt mir wieder einmal den Schweiß überall hin. Es geht steil bergauf, durch den Wald und im wahrsten Sinne über Stock und Stein. Schieben ist angesagt, fast schon muss ich tragen. Idyllisch, aber definitiv kein Radweg.
Ich werde von freundlichen Campingwart begrüßt und lerne auf der Zeltwiese ein nettes älteres Paar und einen ebenso netten Ostfriesen kennen. Es wird ein schöner Abend, den ich mit Schreiben beschließe.
28. Juni
Zeltnächte sind selten gute Nächte. So quäle ich mich morgens aus dem Schlafsack, packe und fahre los. Und ich bin begeistert von meinem Weg heute, es ist wunderschön entlang der Ruhr. Nach 12 Kilometern mache ich ausgiebig Frühstückspause, nach 22 Kilometern ist der Cappuccino dran. Die Schweineohren, die der Bäcker anbietet, müssen von Riesenschweinen stammen. Und, wie ich erfahre, sind sie nicht so süß wie du vom zweiten Bäcker im Ort. Der macht nämlich immer eine Zuckerglasur drauf. So so, jetzt weiß ich das auch.
Ich telefoniere erfolglos mehrere Dachgeber ab. Dann habe ich die Idee, auf 1nitetent nachzusehen. Tatsächlich gibt es eine Familie, die das Zelten im Garten erlaubt, die allerdings etwa 8 Kilometer südlich von Soest wohnt. Das bedeutet: Heute und morgen jeweils 8 Kilometer mehr als geplant. Das wäre letztes Jahr zu Fuß undenkbar gewesen. Heute: Was soll's? 10 Kilometer mehr gehen immer 😁.
Ich rufe also an, und Sabrina am anderen Ende ist unglaublich nett und hört sich sehr sympathisch an. Das ist besonders betonenswert, weil ich die Radfahrer und Spaziergänger häufig als genau das Gegenteil empfinde: Kaum jemand grüßt zurück, geschweige denn initiativ von sich aus. Manche schauen mich an, um nach meinem Gruß demonstrativ wegzuschauen.
Mit einer " gebuchten" Unterkunft im Rücken geht es noch mal schwungvoller nach Soest. Kurz vor dem Ort wird sämtlicher Verkehr in die Stadt angehalten. Der Grund ist schnell klar: Mit viel Tschingderassabumm und Täterä ziehen alle Musikkapellen von Soest über die Hauptverkehrsstraße. Als nach einer Weile die Fahrt wieder freigegeben und das anschließende Chaos in Ordnung übergegangen ist, geht es auch für mich weiter. Am Dom kette ich mein Rad fest und schicke mich an, Soest kennenzulernen. Es ist sehr nett hier: der Dom, viele Fachwerkhäuser, ein kleiner See, auf dem "Kunst" schwimmt. Naja, was eben so Kunst heißt...
Gestärkt und gesättigt mache ich mich auf den kurzen Weg zu meinem Zeltplatz im fremden Garten. Hatte ich vorhin gesagt, ein paar Kilometer mehr würde nichts ausmachen? Das war eindeutig zu früh geprahlt. Es geht stetig bergauf und ich bin fix und fertig, als ich ankomme.
Die Familie ist außerordentlich nett. Erik, der achtjährige Sohn, und Greta, seine elfjährige Schwester, nehmen mich in Beschlag. Später kommt noch der fünfjährige Gustav dazu. Woher kommst du? Wohin willst du? Wie heißt du? Wie alt bist du? Wann bist du fertig mit duschen? Kann ich dir mein Zimmer zeigen? Spielst du mit? Es wird ein lustiger Abend und anschließend eine sehr ruhige Nacht im riesengroßen Aussichtsgarten.
Vielen Dank Sabrina und Familie!
29. Juni
Das Wegkommen heute beweist mal wieder: Ich bin wohl nur glücklich, wenn ich suche. Handy? Powerbank? Ah ja - da! Die zweite große Flasche Wasser? Liegt noch am Zeltplatz. Und die Brille? Wo ist die Brille? Muss dabei sein, sie liegt nicht mehr am Zeltplatz. Und schon klappert sie vom Fahrrad. Perfekt! Ich habe alles zusammen.
Der Start heute versöhnt mit dem Abschluss von gestern: Es geht bergab! Und auch in der Ebene ist kein Halten. Durch Soest und Bad Sassendorf bin ich zügig durch, auf dem Weg nach Lippstadt ist die Frühstückspause an der Reihe, in Lippstadt dann der Cappuccino. Es ist wunderbares Wetter. Weil ich früh losgekommen bin, ist es noch kühl, und ab und zu zieht sich die Sonne eine kleine Wolkendecke über den Kopf.
Heute läuft es sehr gut. Die Radwege sind schön und wunderbar zu befahren, der Wind schiebt mit, und es sind nicht zu viele Cafés im Weg.
Unterwegs stelle ich fest, dass ich nicht nur einen Teil des Jakobsweges entlang fahre, sondern auch die Deutsche Alleenstraße kennenlerne und einen besonderen Fernradweg nutze: Den " Fietsen naar Prag".
Nach etwas über dreieinhalb Stunden liegen 68 km hinter mir, das ergibt die bisher schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 19 km/h. Entsprechend k.o. bin ich. Ich taumle etwas durch Paderborn. Der Name der Stadt sagt es schon: hier entsteht die Pader. Dort, wo sich mehrere Quellen vereinigen, hat die Stadt eine Grünfläche angelegt, die die Paderborner offensichtlich sehr zu schätzen wissen und eifrig nutzen. Kein Wunder, bei den Temperaturen.
Ich lerne: Die Pader ist mit einer Länge von gerade mal 4 Kilometern Deutschlands kürzester Fluss. Sie schließt sich in Schloss Neuhaus der Lippe an. Damit kommt sie nicht aus Paderborn heraus, denn Schloss Neuhaus ist ein Stadtteil von Paderborn. Armes Flüsschen.
Nach dem Essen lege ich mich ins Hotelbett. Ich telefoniere mit Anita und wir freuen uns schon aufeinander: Am Wochenende kommt sie und begleitet mich bis Leipzig.
Nach dem Telefonat schalte ich den Fernseher ein. Es läuft "Die Jury". Prominent besetzt. Die Sonne scheint warm auf mein Bett, und ich spüre, wie mein Körper um Erholung bittet. Ich schaffe es gerade noch, den Fernseher auszuschalten - und bin eingeschlafen.
30. Juni
Der Wecker klingelt um 6 Uhr es wird ein heißer Tag, und ich habe eine anstrengende Strecke vor mir, denn es geht die ersten 22 Kilometer eigentlich nur bergauf, mit bis zu 8% Steigung. Ich gehe es langsam an. Das zeigt sich auch am Ende des Tages: Keine 15 km/h im Schnitt werden es sein.
Bis dahin habe ich eine schöne Strecke vor mir. Bad Lippspringe scheint nett zu sein, ich radle aber weiter. Erst in Horn mache ich eine Cappuccino-Pause. Während ich von meinem Stuhl aus die gegenüberliegende Straßenseite ansehe, fällt mir auf, dass viele Häuser leer zu stehen scheinen. Wenn ich richtig sehe - natürlich kann ich mich täuschen - werden neun von 12 Gebäuden nicht genutzt! Überhaupt fallen mir auf der Reise immer wieder Leerstände auf - sowohl bei Geschäfts- als auch bei Wohnimmobilien. Am krassesten empfinde ich das in Bad Pyrmont, wo der "Kaiserhof", vermutlich einst das beste Hotel am Platz, jetzt ein nicht mehr zugänglicher "lost place" ist. Das 40 Meter lange und 15 Meter breite Gebäude verfällt. Traurig.
Bevor ich nach Bad Pyrmont komme, geht es abseits nach Schieder: der Schlosspark lockt mich, es ist hier sehr ruhig, grün, erholsam. Es kommt, wie es kommen muss: Ein Cappuccino und ein Stück Kuchen landen auf dem Tisch vor mir. Belohnung!
Es geht weiter, entlang des Schieder Sees. So stelle ich mir die Radtour vor! Von da an geht es nur noch bergab nach Bad Pyrmont. Um 15 Uhr checke ich im Hotel ein und erlaube mir danach einen Teil des Kurortes. Er hat seinen eigenen Flair. So etwas kenne ich aus Deutschland nicht. Sehr mondän, sehr betulich, sehr charmant. Mit der Architektur und den vielen Alleen könnte man fast meinen, in Schweden zu stecken.
Während ich zu Abend esse, fällt mir eine Frau auf, die im nachbachtisch um Feuer bittet. Mit ihrem Schickimicki-Getue passt sie eher nach München. Viel sympathischer ist da das ältere Pärchen, auf die Bank neben mir gesetzt hat. Sie sind einfach goldig.
Abends schreibe ich im angenehmen gestalteten Aufenthaltsraum des Hotels. Lautstark kommentiert ein etwas übergewichtiger Fußballfan ein Spiel. Als der Wirt dazu kommt, erfahre ich, dass er, der Wirt, das Hotel verkaufen, und dass er, der Fußballfan, nach Albanien auswandern will. Werden beide nicht ...
Eine nette Idee des Hotels: Im Aufenthaltsraum hängt eine digitale Polaroid-Kamera. Die Gäste dürfen sich die Kamera ausleihen und zwei Fotos schießen, die dann ausgedruckt werden: Eines für die Gäste, eines für die Pinnwand des Hotels. Wirklich nett.
Ich werde die Kamera aber nicht nutzen, sondern ins Bett gehen und ausschlafen ...
1. Juli
Ausschlafen? Na ja, geht so. Es gibt sicher einen Grund dafür, dass ich, obwohl hundemüde, nicht so gut schlafen. Ich wache immer wieder auf, liege dann eine Weile wach, döse weiter... Eine Nacht zum Abhaken.
Heute habe ich Zeit, es liegen nur etwa 25 Kilometer vor mir. Das nutze ich, um mir im Museum vpn Bad Pyrmont eine Tesche-Ausstellung anzusehen. Tetsche ist bekannt aus einer wöchentlich erscheinenden Illustrierten. Dort gestaltet er eine "Bastelecke", schreibt "Kurzromane" und zeichnet Karikaturen mit Pömpel, Spiegelei und Zahn. Barum? Dorum! Einfach mal in die Suchmaschine eingeben ...
Als ich weiter fahre, ist es schon sehr warm, eine Hitzewelle hat nicht nur Deutschland sondern große Teile Europas erfasst. Zum Glück geht der Weg heute in großen Teilen entlang der Weser oder durch Waldstücke.
In nicht allzu großen Abstand sehe ich das Kernkraftwerk Grohnde. Ein Argument gegen Windanlagen ist immer wieder die Ästhetik: "Wie sieht das denn aus? Das verschandelt ja die ganze Gegend!" Aber mal ehrlich: So ein KKW ist auch nicht gerade ein Gebäude, dass ich durch besonders ansprechende Architektur auszeichnet. Filigran ist anders. Es bleibt schwierig, solange wir unseren Energiehunger nicht deutlich zügeln.
Hameln kündigt sich an. Einen Zeltplatz im hiesigen Kanuverein habe ich im Voraus gebucht. Bereits um 13 Uhr steht das Zelt. Alles hat Zeit zu trocknen, während ich die Stadt erkunde. (Ich bin sicher: Morgen früh ist alles wieder klamm, weil ich so nah am Wasser gebaut habe. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, die Weser fließt direkt neben meinem Zelt vorbei.)
Die Rattenfängerstadt ist durchaus hübsch und sehenswert. Mein erster Weg aber führt mich in das große Einkaufszentrum. Es ist verlockend kühl hier drin!
Danach schleiche ich durch die Stadt. Schnell geht bei der Hitze gar nichts. Wie in vielen Ortschaften fehlt Grün, die Sonne heizt die Gebäude und die Flächen gnadenlos auf. Ich bin sicher, dass man auf dem Asphalt Eier braten könnte. Passenderweise steht neben der Nicolaikirche eine "Green-Box", in der man erfahren kann, wie Pflanzen die Temperaturen senken können. Und einige Schilder erklären, wie stark sich Städte in den letzten Jahren aufgeheizt haben, weil es immer mehr Tage mit Temperaturen über 30 Grad gibt. Sollen unsere Innenstädte nicht noch mehr verwaisen, ist da dringend geboten, gegenzusteuern. Es gibt gute Beispiele, wie das geht.
Ich esse früh zu Abend, denn morgen soll es noch heißer werden, also will ich früh aufbrechen.
Eine schlechte Nachricht bekomme ich noch von Anita: In ihrem Haus ist ein Rohr verstopft. Daher ist es nicht sicher, ob sie ab dem Wochenende dabei sein kann. Es wäre wirklich schade wenn nicht, deswegen knoble ich an den Plänen B bis E. Einer wird klappen.
2. Juli
Noch bevor der Wecker klingelt starte ich die morgendliche Campingplatzaufbruchroutine. Luft aus der Matratze, Schlafsack in die Hülle, Zelt abbauen, alles einpacken,Taschen ans Fahrrad, Wasserflaschen füllen. Ich mache gemütlich und langsam, für Hektik habe ich keine Zeit. Eine gute halbe Stunde nach dem Aufstehen fahre ich durch die kühle Morgenluft und Hameln.
Der Elan, die Lust, der Spaß am Weiterfahren sind mir heute etwas abhanden gekommen. Da ich keine Alternative habe, fahre ich nach Bad Münder. Ich brauche noch Milch für das Frühstücksmüsli. Kurz hinter Eimbeckhausen lasse ich mich am Fuß eines Kriegerdenkmals nieder. Im Schatten, denn es ist schon recht warm geworden. Nicht nur die Temperaturen, sondern auch mir, denn es ging hierher schon etwas bergauf. Und es wird noch einiges mehr bergauf gehen, ich habe ordentlich Respekt vor der Strecke. Auf knapp 3 km geht es 100 m bergauf, dann folgt eine kurze Erholung, denn es geht 50 m bergab. Danach wird es richtig gemein: Auf zwei Kilometern Strecke erklimme ich rund 100 m Höhe. Vielleicht sind es für routinierte Fahrradfahrer keine besonderen Werte, so z. B für den Rennradler, der mich locker überholt. Aber zum einen ist er eben genau das: Routiniert. Zum anderen schleppt er geschätzte 30 bis 40 Kilogramm weniger Gewicht mit sich. Als ich jedenfalls auf der Höhe des Nienstädter Passes (der heißt wirklich so: Pass. auf 277 Metern Höhe über dem Meer) ankomme, brauche ich eine Pause. Die überdachte Bushaltestelle kommt da gerade recht. Ich setze mich, und der Schweiß tropft mir aus dem Gesicht.
Die Belohnung: Jetzt geht es bergab bis Nienstädt. Herrlich! In Nienstedt biege ich links weg von der Hauptstraße, die mich so schön schnell hierher gebracht hat. Ich verschalte mich, und die Kette springt aus dem größten Ritzel des Hinterrades heraus. Ich suche professionelles Werkzeug - ein großes Blatt eines Walnussbaumes, ein Stöckchen und ein Papieraschentuch - und repariere den Schaden schnell und fachmännisch.
Es ist übrigens meine größte Sorge auf dem Trip, dass irgendetwas ernsthaft kaputt geht. "Ernsthaft" wäre für mich schon ein platter Reifen. Zwar habe ich einen Ersatzschlauch dabei; die Ahnung aber, wie der Schlauch zu ersetzen wäre, habe ich nicht mitgenommen. Ich habe noch nie etwas am Fahrrad repariert und hoffe einfach. Ich habe ja auch noch nie etwas am Auto repariert und fahre trotzdem.
Zurück zur Tour bereits um 11 Uhr habe ich die für heute angesetzten knapp 40 Kilometer hinter mir. Zum Glück, denn es ist schon jetzt richtig heiß. Das Ziel heute ist Barsinghausen. Hier heißen mich Karin und Ralf wieder einmal herzlich willkommen, ich fühle mich fast wie zu Hause.
Insgesamt bin ich bis hier acht Tage radelnd unterwegs und damit einen Tag weniger als geplant das gibt mir morgen die Gelegenheit, die Verwandtschaft in Bad Salzdetfurth zu besuchen. Freitag morgen bringen mich S-Bahn und ICE hoffentlich nach Stuttgart, wo Anita mich abholen wird. Ich freue mich darauf!
Heute Abend allerdings lerne ich erst einmal ein paar nette Barsinghausener kennen. Vor der Kirche ist "Singen am Feuer" angesagt. Singen werde ich zwar nicht aber es wird trotzdem ein netter Abend. Allerdings kippt das Wetter, die Temperatur fällt deutlich, und starker Wind zieht auf. Ein wenig besorgt schaue ich auf die Wettervorhersage für Anfang nächster Woche. Die ist eher mau: Keine 20 Grad mehr und Regen. Wir werden sehen was wir daraus machen. Jetzt ist erstmal heute, und heute ist alles gut.
3. Juli
Man möge mich nicht verurteilen: Mit dem Auto fahre ich nach Bad Salzdetfurth, um die Verwandtschaft zu besuchen. Ich hätte auch S-Bahn und Zug nehmen können, wäre dann aber statt einer guten Stunde über zwei Stunden unterwegs gewesen. Da Karin und Ralf am Abend einen Tisch im persischen Restaurant reserviert haben, bin ich zeitlich eingespannt und entscheide mich fürs Auto, das ich von den beiden dankenswerterweise ausleihen darf. Dank einer größeren Umleitung bin ich dann doch etwa zwei Stunden unterwegs ... Ich nutze die Zeit, um mich bei Lukas für das nächste Wochenende anzumelden. Er lebt seit einiger Zeit in Leipzig, und die Streckenführung habe ich durch diese linke Bastion im ansonsten ziemlich rechten braunen Sachsen gelegt. Leider wird Lukas just an den Tagen, an denen ich dort bin, nicht zu Hause sein.
Kusine Ulrike hat aufgetischt, und wir unterhalten uns blendend bei Kaffee und Kuchen. Die Zeit vergeht schnell, und ich breche wieder auf. Um die Umleitung des Hinwegs zu umfahren, nehme ich eine etwas andere Route, die nur unwesentlich länger ist, und mich zügiger zurück nach Barsinghausen bringen soll. Tja, was soll ich sagen ... Die Welt ist voller Umleitungen, und ich benötige wieder etwas über zwei Stunden für den Rückweg. Als ich schon auf ihr Haus zusteuere, ruft Karin an und fragt, wie lange ich wohl noch brauche. Sie ist hörbar erleichtert über meine Antwort: "Etwa 40 Sekunden!" Es wird ein schöner, Abend bei gutem Essen.
4. bis 6. Juli
So schön es auch woanders ist, zu Hause ist es am Schönsten! Die Zugfahrt verläuft ereignislos; umso schöner ist der Empfang durch Anita. Sie kommt mich in Stuttgart abholen und rennt in meine Arme. Ich sage ja: Zu Hause ist es am Schönsten ...!
Da das "Gästehaus Metler" weiter betrieben werden soll, während Anita mich begleitet, kommt am Samstag, eine Freundin, Elfriede, zu "Besuch". Sie ist eine Seele von Mensch und wird die Gäste sicher gut betreuen. Und sie hat lange in Reutlingen gewohnt, freut sich also auf die alte Heimat. So ist allen geholfen.
Sonntag machen Anita und ich uns auf den Weg zurück. Leider hat die Bahn keine Plätze mehr frei für Fahrräder, so entscheiden wir uns doch für das Auto. Der Fahrradträger erfährt eine Premiere. Er ist zwar schon ein paar Tage alt, wurde aber nie benutzt. So sind wir beide gespannt, ob alles gut geht. Es geht gut. Spoiler: Auch die Rückfahrt - dann mit beiden Rädern - wird gut gehen, auch wenn wir danach von Pensionsgästen erfahren, dass sie schon einen Träger samt Rädern veroren haben ...
Diesmal ist das Abendessen in Barsinghausen indisch - und wieder sehr gut! Anita fühlt sich sichtlich wohl mit Karin und Ralf, was mich sehr freut! Nach einem abschließenden Glas Wein bei den beiden zu Hause fallen wir in das Gästebett.
7. Juli
Die nächste Premiere steht an: Die erste gemeinsame Etappe bringt uns nach Hildesheim. Bevor es losgeht, warten wir allerdings noch etwas ab, bis der Regen nachlässt. Er erwischt uns trotzdem, aber nicht sehr heftig und nicht sehr lange, sodass wir gut drei Stunden t und knapp 50 Kilometer nach Star trocken ankommen.Davor liegt eine recht schöne Strecke durch verschiedene Dörfer mit schnuckeligen Häusern, die sehr gemütlich aussehen und deren Gärten zum Faulenzen einladen, Wir finden auf dem Weg einen Bäcker, der uns die fällige Belohnung gerne verkauft: Kaffee, Cappuccino und Kuchen. Witzigerweise ist es derselbe Bäcker in Nordstemmen, den ich etwa ein Jahr zuvor wandernd besucht habe.
Fahrten über Land sind dann sehr schön, wenn sie nicht entlang oder sogar auf einer Straße führen. Unangenehm werden die Touren, sobald sie durch etwas größere Orte gehen. Jetzt ist Hildesheim nicht gerade eine Weltstadt; um die Fahrt zum Hotel anstrengend zu machen, ist sie allemal groß genug,. Egal, wir kommen wohlbehalten an und checken ein. Das Einchecken ist wieder einmal so eine Erfahrung: An einem Bildschirm mit Touch-Funktion geben wir unsere Daten selbständig ein. Zwar kommt ein Angestellter und untersützt uns, aber das scheint mehr aus Langeweile als aus echter Dienstleistungsmentalität zu geschehen. Sogar die Schlüsselkarten codieren wir selber. Wieder etwas gelernt.
Auf nach Hildesheim, das ich ein wenig kenne, das aber trotzdem mit für mich Neuem aufwartet. Zunächst einmal ist da der Stadtstrand, modern "City Beach" genannt: Ein paar Hütten mit Getränken und Speisen, ein bißchen aufgeschütteter Sand, ein paar Stühle und Schirme - schon ist ein sehr ansprechendes Ambiente geschaffen. Wir gönnen uns einen Aperitiv. Dann entdecken wir das zweite für mich Neue: Den historischen Marktplatz mit den schönen Häusern einer Sparkasse, eines Hotels, eines Cafés und anderem. Schade, dass der Rest der Stadt nicht hält, was der Marktplatz verspricht.
8. Juli
Wir checken ebenso selbständig aus, wie wir am Vortag eingecheckt haben. Auch heute ist es eher unangenehm, entlang der Straßen aus Hildesheim herauszufahren - und es geht heute lange entlang der B6. Bis Derneburg sind es etwa 14 Kilometer, erst dann entlässt uns die Bundesstraße. Und kurz danach ist Holle erreicht,und wir stellen fest: Man kann noch recht preiswert frühstücken. Für knapp sieben Euro pro Person sind wir satt genug, den Rest des Tages zu überstehen. Nach Holle wird der Radweg wieder schöner, wir sind zum Teil auf dem Radroutennetz Wolfenbüttel unterwegs. Später geht es dann auf einem anderen Teil eben dieses Netzes entlang der B6, die uns mit großem Getöse wie alte Bekannte begrüßt. Es ist schon erstaunlich, wie sehr uns der Autolärm zusetzt, selbst dann, wenn wir nicht direkt auf der Straße sondern daneben auf einem Radweg unterwegs sind.
Was uns heute noch mehr als der Straßenlärm zu schaffen macht, ist die Steigung. Es geht nahezu beständig bergauf. Mit bis zu 4% ist es zwar nicht allzu steil, aber eben gefühlt die gesamte Strecke, und das sind heut immerhin 66 Kilometer. Sicheer, Gefühl und Wahrheit gehen etwas auseinander; aber als wir am Abend das Höhenprofil ansehen, erkennen wir, dass unser Gefühl dann doch nicht komplett täuscht. Es ging insgesamt 530 Meter hoch.
Bad Harzburg ist unser Ziel. A propos "Harz": Dadurch, dass wir Karin und Ralf in Barsinghausen besucht haben, was die Tour um zwei bis drei Tage verlängert, sind wir weit genug nördlich, um den Harz nur zu streifen, statt über ihn hinweg zu fahren. Das Stadtbild von Bad Harzburg jedenfalls begeistert uns. Wir können uns gut vorstellen, dass hier einmal sehr viel los war. Viel Grün, viele schöne Häuser, mit knapp 20.000 Einwohnern auch groß genug, um sich wohlzufühlen. Immerhin war Bad Harzburg ein so genanntes "Weltbad", was im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Auszeichnung dafür war, dass die Kurstädte mehr boten, als andere: Vergnügungen, internationale Gäste, besondere Architektur.
Heute fragen wir uns, wo all die Menschen sind. Die Straßen und Restaurants sind sehr leer.
Wir belohnen uns für die Bezwingung der "Bergstrecke" mit einem hervorragenden Abendessen im anscheinend besten Restaurant des Ortes. So recht passen wir nicht hierher, haben wir doch nur unsere Radler- bzw. Freizeitklamotten mit. Aber so ist es eben, wir genießen den Abend zwischen beanzugten Herren und herausgeputzten Damen - und sind eigentlich ganz froh, etwas unkonventioneller daherzukommen.
9. Juli
Wir wissen, dass unsere Strecke heute weniger anstrengend wird, als gestern. Es sind ebenfalls nur 66 Kilometer, aber es geht beständig bergab. Daher lassen wir uns am Morgen erst einmal zu einem ausgiebigen Frühstück im Hotel nieder. Das Hotel ist sehr nett, eine Villa, die im ausgehenden 19. Jahrhundert gebaut wurde. Sie wurde sicher immer wieder renoviert und technisch erneuert, und hat sich den alten Charme erhalten.
Gut gestärkt geht es also vom Hotel aus bergab, nur damit uns dann die Strecke zweieinhalb Kilometer bergauf hetzt. Der erste Ort, durch den wir kommen, ist Ilsenburg. Wir sind im nächsten Bundesland angekommen, in Sachsen-Anhalt. Uns holt ein Regenschauer ein, und so machen wir bereits jetzt, nach gerade einmal 14 Kilometern, eine erste Rast. Ilsenburg gefällt uns sehr gut, auch wenn wir das erste Mal ernsthafte Bekanntschaft mit Kopfsteinpflaster machen. Wollen wir nicht ordentlich durchgeschüttelt werden, können wir nur langsam fahren. Das aber verlängert natürlich die Zeit auf dem Sattel, unsere Hinterteile sind wenig begeistert.
Ein älterer Herr kommt aus einem Metzgerladen, den fragen wir nach einem Bäcker bzw. Café. Außer der gewünschten Information erfahren wir noch, dass er Kaminbauer war, immer noch gelegentlich arbeitet, ehrenamtlich im hiesigen Tourismusverein tätig ist, am Wochenende ein Seefest stattfindet, und vieles andere mehr. Es ist etwas schwer, uns zu lösen. Als wir es schaffen, hat es zu regnen aufgehört und wir haben uns die Pause umso mehr verdient.
Eigentlich wollten wir erst in Wernigerode Pause machen. Und weil wir gute Planer sind, halten wir uns auch zumindest daran, in dem schnuckeligen Ort Pause zu machen. Wernigerode ist, genauso wie später am Tag Quedlinburg, ein Tipp einer jungen Frau, die mich nach einem meiner Vorträge zu meiner Wanderung angesprochen hat. Auf diesem Wege vielen Dank für die Tipps! Es hat sich wirklich gelohnt!
Wernigerode also: Wir sind begeistert. Nicht nur von der Architektur, sondern auch davon, dass hier wirklich Menschen auf den Straßen sind. Die Stadt lebt. Wir schauen aus Neugier in die Schaukästen mit Immobilienangeboten und sind geplättet. Die Häuser und Wohnung kosten hier geschätzt gerade einmal ein Drittel dessen, was wir von Reutlingen und Umgebung gewöhnt sind.
Durch Blankenburg fahren wir durch, wieder einmal verstehen wir nicht, wie es kommt, dass in einem Ort - Wernigerode - das Leben, naja, tobt, während ein paar Kilometer weiter - Blankenburg - nichts los ist, obwohl die Stadt selber auch sehr nett ist. Etwas, das wir von der nächsten Ortschaft nicht sagen können. Timmenrode kommt uns eher gruselig vor, wir sind froh, als wir wieder aus dem Ort fahren können.
Quedlinburg dagegen ist auf jeden Fall besuchenswert, auch wenn wir uns auch hier fragen, wo die ganzen Menschen sind. Da wir für heute fast fertig sind - von unserer Uterkunft trennen uns gerade mal noch 12 Kilometer, belohnen wir uns. Wir finden ein Café, das auscchließlich verschiedenste Sorten Käsekuchen und Waffeln anbietet. Anscheinend haben sie bishe 193 Sorten Käsekuchen angeboten. Anita entscheidet sich für den mit Mango, ich bestelle eine Waffel. Danach machen wir uns auf, die Stadt zu besichtigen, es ist wirklich nett hier, auch wenn nur wenig Menschen unterwegs sind.
Auf dem Weg zur Unterkunft kaufen wir noch etwas zum Abendessen ein, dann geht es ab ins Kloster. Jawohl, diese Nacht verbringen wir im Kloster. Keine Angst, wir werden nicht zum Beten oder zum Arbeiten gezwungen, nicht einmal gefragt werden wir. Bevor wir ankommen, können wir schon abschätzen, dass wir es nicht schaffen werden, vor 18 Uhr anzukommen. Wir wurden gebeten, in diesem Fall eine Email zu schreiben oder anzurufen. Die Email habe ich schon früh geschrieben; als eine halbe Stunde for der Frist keine Antwort gekommen ist, rufe ich im Kloster an. Die freundliche Stimme auf dem Anrufbeantworter rät mir, eine Email zu schreiben. Tja, dann wird es eben so gehen ... Tatsächlich kommen wir erst etwa eine Viertelstunde "zu spät" an. Zum Glück ist aber noch ein netter Herr am Empfang, gibt mir die Schlüssel, zeigt mir einen Platz für die Fahrräder und wünscht einen schönen Abend. Wie immer ist alles gut gegangen. Trotz Kopfsteinpflaster.
Wir suchen uns ein schönes Plätzchen auf einer Bank und genießen das Abendessen: Ein Brathähnchen, eine große Dose Kartoffelsalat, Obst und ein paar Süßigkeiten zum Nachtisch. Das ganze wird mit etwas Rotwein aus dem Edelstahlbecher gekrönt. Es ist so friedlich hier, wir wollen heute mit keinem Restaurantbesucher tauschen.
Ein Gast, der noch später ankommt, als wir, fragt uns, wie er denn an seinen Schlüssel kommt. Wie es aussieht, können wir ihm helfen, denn er packt etwas später seinen Koffer aus dem Auto. Dann macht er sich auf, etwas zu Essen zu finden. Da haben wir es schöner ...
10. Juli
Wir stehen früh auf, wissen wir doch, dass heute die längste Etappe der Tour ansteht. Geplant sind 81 Kilometer; später werden nochmals acht Kilometer dazukommen, wenn wir in die Innenstadt von Halle fahren. Jetzt verabschieden wir uns erst einmal vom Klosterleben, und sofort hat uns das Kopfsteinpflaster wieder. Wir fahren vorbei an Haus, nein Dorf, nein: Hausneindorf und werden gerüttelt, nicht geschürt. Dafür geht es danach wunderschön vorbei an ein paar Seen und ein paar Leben: Schadeleben, Wilsleben, schließlich Aschersleben, wo wir eine Frühstückspause einlegen. Danach geht es bis Alsleben auf einer Landstraße - zum Glück mit wenig Verkehr. Gut an den Straßen ist, dass wir zügig vorankommen. Auch geht es heute bis auf eine etwas fiese Steigung nahezu beständig bergab, einen Teil der Strecke herrlich an der Saale entlang. Die Steigung ist deshalb fies, weil sie auf einer Strecke von drei Kilometern bis zu 5% bergauf geht, danach sanft abfällt, um uns noch einmal bergauf zu treiben. Dabei stellen wir wieder einmal einen Unterschied zwischen Wandern und Radfahren fest: Beim Radfahren kann man sich etwas ausruhen, wenn es bergab geht.
Wettin ist unser Zwischenziel. Dort gibt es Cafés. Der Ort ist winzig, aber wir haben eine reiche Auswahl: Das Café im Nest liegt direkt an unserer Route, ist aber geschlossen. So fahren wir in das höher gelegene Dorf. Es geht mir zu steil aufwärts, ich steige ab und schiebe. Anita nimmt die Herausforderung an und strampelt, bis sie oben ist. Während wir den Berg erklimmen, läuft eine ältere Frau an uns vorbei. Anita grüßt, bekommt als Antwort aber nur einen vor Staunen offen stehenden Mund. Ich grüße, sehe die Frau mich anschauen, dann nach oben zu Anita blicken, dann wieder mich. Ihr Kommentar: "Det is ja mal stark, wa?"
Das Café am Markt macht einen seltsamen Eindruck auf uns. So landen wir im Burgcafé: Herrlicher Ausblick, leckerer Kuchen, aber außer uns keine Gäste. Ursula ist seit 30 Jahren die gute Seele des Cafés und sicherlich erfreut über die Abwechslung. Als wir gehen, löst uns ein anderes Pärchen ab; schön für Ursula, da hat sie etwas zu tun.
In Halle suchen wir das Nordbad. Nicht, um schwimmen zu gehen, sondern weil dem Bad ein Campingplatz angegliedert ist. Ich finde ihn mit 18 Euro recht teuer, vor allem, weil er nicht viel bietet, aber wir wollen unbedingt ausprobieren, wie wir im Zelt zurecht kommen. So viel sei verraten: Wie immer ist eine Nacht im Zelt keine wirklich gute Nacht ... Der Campingplatz ist klein, bietet aber die Wahl zwischen zwei unterschiedlichen Arealen für Zelte. Wir entscheiden uns für die Höhe und haben einen tollen Blick über Bad und Wohnmobile sowie auf die Loftwohnungen gegenüber. Dort zu wohnen hätte sicher was, mindestens einen schönen Blick auf die Saale.
Als das Zelt steht, schwingen wir uns nochmal auf unsere Drahtesel, wir wollen Halle sehen. Allzu weit kommen wir nicht, denn wir sind zu k.o. Es reicht gerade für ein Getränk in einer Bar, dann machen wir uns auf den Rückweg. Der Hinweg war einerseits sehr stressig, denn er führte beständig an einer Hauptstraße entlang. Andererseits war er recht locker, denn zumindest gefühlt ging es dauernd bergab. Das würde bedeuten, dass uns der Rückweg ebenso dauernd bergauf treiben würde. Und das ist etwas, was wir uns nicht so recht vorstellen wollen. Also suchen wir nach einer alternativen Route und werden fündig: Immer an der Saale entlang. Die Strecke ist etwas länger, verspricht dafür aber weniger Autoverkehr. Und da sie an der Saale entlang führt, geht es erst einmal bergab ... Dafür ist die Fahrt ein Genuss in Grün und Blau: Grün, weil das Ufer fast schon zu einem Park gepflegt ist, und Blau weil uns die Saale begleitet. Und wir stellen fest, dass es so eine Sache ist mit den Gefühlen: Hatten wir befürchtet, dass wir den ganzen Weg bergauf fahren müssen? Naja, es geht tatsächlich bergauf, aber nur die letzten paar Meter. Da stimmt wohl was mit unseren Gefühlen nicht ...?
Auf eben dieser Rückfahrt passier der einzige Unfall: Anita gerät mit ihrem Vorderrad in die Schiene der Straßenbahn und stürzt. Zum Glück hat sie sich nicht weh getan, hat keine Schramme, keine Beule, keinen Bruch. Es geht weiter.
Neben unserem Zelt steht eine Bank, die wir für unser Abendessen belegen. Es gibt - natürlich - Kartoffelsalat, Obst, etwas Süßes und Obst. Das Ganze wieder bei Sonnenuntergang. Was kann es Schöneres geben?
Die Sanitäranlagen sind extrem einfach gehaltene Container, etwas eklig. Fast schon unangenehmer sind auf den ersten Blick die beiden Typen, die vor den Containern herumlungern. Ich unterhalte mich zwar ein wenig mit ihnen - sie teilen mir mit, dass sich in das mittlerweile im Feierabend befindliche Freibad zwei Rehe verirrt haben - aber so richtig warm werde ich nicht mit ihnen.
Na gut, jetzt ist Schlafenszeit, gehabt Euch wohl und träumt was Schönes!
11. Juli
Nach unserer größten Etappe lockt heute wieder eine kleinere. 47 Kilometer loggen wir am Ende. Vorher bummeln wir ein wenig durch Halle, genießen einen Kaffee und einen Cappuccino in einer Rösterei - und werden mit deutscher Präzision konfrontiert. Die Rösterei öffnet um 10 Uhr. Als wir uns um 9:54 Uhr an einen Tisch im Außenbereich setzen, ignorieren uns die Angestellten völlig, es ist ja noch nicht 10. Punkt 10 Uhr wird das Schild, das auf die Öffnungszeiten hinweist, entfernt, und man erlaubt uns, zu bestellen. Na gut ...
In Schkeuditz wird gefrühstückt, dann geht es durch Altscherbitz und Modelwitz (kein Witz, der Ort heißt so, auch wenn wahrscheinlich keine Models hier herkommen) an das Saaleufer zurück.Es ist ein sehr guter und schöner Radweg, der auf einem Damm gegen ein Saalehochwasser angelegt wurde. So brausen wir nach Leipzig, wo wir eigentlich Lukas besuchen wollten; leider ist er aber gerade mal wieder unterwegs, aus dem Besuch wird nichts.
Zum Ausgleich für das Zelten gestern habe ich ein Zimmer in einem Viersternehotel gebucht. Klingt teuer, ist aber fast die preiswerteste Hotelnacht. Schnäppchen eben. Wir geben uns unserer Ankommensroutine hin: Duschen, Umziehen, Ort erobern. Leipzig zeigt sich von seiner tollen Seite: Das Wetter passt, viele Menschen sind auf den Straßen und Cafés, Restaurants und Läden sind geöffnet und besucht. Wir lassen uns auf einen Drink in der Nähe der Nicolaikirche nieder und stellen bald fest, dass wir keine Lust und keine Energie haben, ein Restaurant zu suchen. Wir entscheiden, hier zu Abend zu essen - und werden mit einem sensationellen Rinderfiletsteak belohnt.
12. Juli
Ich habe schon auf der Fahrt mit Anita von Reutlingen nach Barsinghausen in mich reingehört und festgestellt, dass ich keine Lust mehr habe, nach Leipzig noch weiter zu fahren. Es wären zwar nur noch 265 Kilometer. Aber es gibt einiges, was mich zu meiner Entscheidung drängt: Ich bin müde, das Wetter wird schlecht, auf dieser letzten Strecke scheint es wenig Infrastruktur (Übernachtung, Verpflegung) zu geben, was die Strecke länger machen würde. Und ich war dieses Jahr schon viel unterwegs, und die nächsten Reisen stehen an.
So kommt es, dass wir am Morgen unsere Sachen packen, die Räder beladen und zum Bahnhof radeln. Das Wetter macht den Abschied leicht und bestätigt meine Entscheidung: Es regnet wie aus Kübeln.
Um 9:42 rollt unser Zug in Richtung Hannover. Im Fahrradabteil sitzt ein extrem unfreundlichen Mann, der seine Sichtweise in einer hitzigen Diskussion mit anderen Mitreisenden mit einem lautstarken "Blablabla!" unterstreicht. Noch nie habe ich einen solchen Unsympathen erlebt. Er passt gut zu der Frau, die ähnlich robust auf andere reagiert und in der S-Bahn von Hannover nach Barsinghausen mit uns im Fahrradabteil fährt. Furchtbar.
In Barsinghausen wollen wir bei einem Bäcker frühstücken. Tja, da haben wir Pech gehabt, denn es ist Samstag, und Samstag schließen die Bäcker früh. Also fahren wir nach der Montage der Fahrräder auf den Träger in einen Supermarkt, dort gibt es einen Bäcker, der sicher geöffnet hat. Das stimmt auch, am Ende entscheiden wir uns aber für die gesunde Variante: Currywurst mit Pommes.
Abends um 21:00 Uhr kommen wir zu Hause an und sind todmüde. Elfriede und Anna, eine weiter Freundin von Anita, begrüßen uns mit einem sehr willkommenen Eintopf - sehr lecker! Vielen Dank auch dafür!
Fazit
Was ist jetzt besser oder schöner oder attraktiver - Wandern oder Radfahren? Eine Antwort fällt mir schwer. Radfahren erscheint mir leichter, dann das Gepäck wird größtenteils vom Rad gestemmt. Es ist einfacher, doch mal noch etwas länger zu fahren als geplant, Umwege fallen nicht so schwer. Beim Wandern aber sieht man mehr, kann auch "Kleinigkeiten" am Wegrand anders, ausgiebiger betrachten. Ein Gespräch mit Fremden kommt leichter zustande, zumal, wenn man mit einem großen Rucksack unterwegs ist: Der ist ein klarer Eisbrecher. Das Wandern habe ich insgesamt als körperlich anstrengender wahrgenommen, das Radfahren war immer dann unerfreulich, wenn es über schlechte Wege (Kopfsteinpflaster ist in den östlichen Bundesländern noch immer weit verbreitet ...) oder direkt auf Straßen geht. Beides hat seine Reize, mehr Aufmerksamkeit konnte ich der Umgebung beim Wandern widmen. Falls wir uns mal wieder auf Tour begeben - egal, ob Wandernd oder Radelnd - werden wir sicher nicht eine Tour aussuchen, die "von ... nach" führt, sondern (Fern-)Wander- bzw. (Fern-)Radwegen folgt, die sich durch z.B. landschaftliche Attraktivität auszeichnen. Und: Die Etappen werden kürzer werden, nicht so verhetzt; es lohnt sich bestimmt, sich mehr Zeit zu nehmen. Also - auf ein Neues. Wann auch immer ...
Nachschlag
Ich hatte viel Zeit zu überlegen, was Radfahren in Deutschland bedeutet. Und ich habe den direkten Vergleich zu den Niederlanden, wenigstens zu dem Teil, den ich befahren habe. Es gibt sie, die guten Radwege in Deutschland. Aber viel zu oft ist man gezwungen, über schlechte Wege zu fahren oder direkt auf Straßen. Oder auf Gehwegen, wenn das Radfahren dort ebenfalls erlaubt ist. Beides, das Fahren auf einer Straße und das Fahren auf Gehwegen ist nicht nur unerfreulich, sondern potenziell gefährlich. Für Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger. Wie es aussieht, betrachten die Verkehrsplaner Radler entweder als langsame Autos oder als schnelle Fußgänger. Beides ist nicht zutreffend, wir sind weder langsamer noch schneller. Erst, wenn Radfahrer - zusammen mit anderen Fortbewegungsmitteln mit ähnlichen Geschwindigkeiten, E-Scooter, motorisierte Rollstühle, Mofas - als eigene Kategorie von Verkehrsteilnehmern erkannt und behandelt werden, werden wir sicherere und bessere Wege schaffen. Das klingt sehr fordernd, hilft aber letztlich allen Verkehrsteilnehmern: Autofahrer werden mindestens entlastet, vielleicht sogar mehr ermutigt, auf ein Rad umzusteigen. Mehr als einmal mussten auf den Straßen Autos hinter uns "herkriechen"; wäre mehr Verkehr gewesen, hätten wir so einen Stau verursacht. Mit einem eigenen Wegenetz passiert das nicht. Und Fußgänger müssten nicht fürchten, von den deutlich schnelleren Radlern erschreckt oder sogar angefahren zu werden. Vernünftig nutzbare Wege für Radfahrer sind eine wichtige Maßnahme für eine Verkehrswende, die wir dringend benötigen.