1. Juli
Den Regenschauer warte ich noch ab, dann marschere ich in Crailsheim los. Es hatten sich ein paar Freundinnen und Freunde zum mitwandern angekündigt; Bisher ist nichts daraus geworden. Der Tag heute ist trist, und der Weg durch die Stadt Crailsheim trägt nicht zur Besserung meiner Laune bei. Es wäre schön, jetzt nicht alleine zu wandern. Dazu kommt, dass der Weg heute nicht allzu viel hergibt.
Ein komplett eingezäunter VW-Bus bringt mein Hirn dann doch auf Touren. Warum ist er eingezäunt? Ist er schon mal alleine durchgebrannt? Steht er unter Quarantäne? Ist er zu wild und wird erst noch eingeritten? Fragen über Fragen, Antworten erhalte ich nicht ...
Dann meint meine App, dass ich über die Jagst soll. Nein, nicht wirklich "über", sondern durch. Durch die Jagst. Der Fluss allerdings führt reichlich Wasser und hat deshalb eine starke Strömung. Zu viel für mich. Ich bin sicher: Versuchte ich es, ich landete der Länge nach im Wasser, alles wäre nass, die Elektronik hinüber, und ich bräche mir mindestens zwei Knochen. Abgesehen von all den Krankheiten, die ich mir holte, tränke ich versehentlich Jagstwasser.
Also brauche ich eine neue Route, die natürlich länger sein wird. Egal.
Ende des Tages finde ich mich in Ellwangen wieder. Vor fast genau einem Jahr war ich ein Wochenende lang mit meinem Studienfreunden hier. Das einzige Café, das geöffnet zu haben scheint, ist witzigerweise auch das, in dem wir auch damals gemütlich gesessen haben, während es geregnet hat. Und witzigerweise regnet es auch heute wieder.
Ellwangen selber ist durchaus sehenswert. Interessant sind die beiden Kirchen am Marktplatz, die ältere katholisch, die jüngere evangelisch. Das an sich ist nichts Besonderes, das Besondere ist, dass beide Kirchen aneinander gebaut und durch eine Tür miteinander verbunden sind. Diese Tür war lange geschlossen und verstellt, bis sie wieder entdeckt wurde. Der katholische Pfarrer fragte in Rom an, ob er die Tür wieder öffnen dürfe - und erhielt eine Absage. Die kam von einem gewissen Josef Ratzinger, als er Präfekt der Glaubenskongregation war. Erst 1999 kam die Erlaubnis, die Tür zu öffnen. Heute ist sie von demjenigen zu finden, der weiß, dass sie existiert und wo sie sich befindet.
2. Juli
Auch heute gibt der Weg nicht viel her, also sause ich nach Aalen, meinem nächsten Ziel. Die Stadt hat sich aufgehübscht mit zahlreichen "Pflanzeninseln", auf denen Holztiere in Lebensgröße die Stadtbummler munter begrüßen. Schade, dass der Schmuck nur temporär gezeigt wird, die Innenstadt profitiert gewaltig davon.
Um nicht wieder bei Pizza oder Pasta zu landen, mache ich Rambazamba. Besser: Ich esse im Rambazamba. Es gibt eine sensationelle Currysuppe. Da alle Tische belegt oder reserviert sind, quetsche ich mich wortwörtlich ins letzte Eck. Ich komme mit meiner Nachbarin ins Gespräch, sie hat ebenfalls die Suppe bestellt und ist begeistert davon. So findet der Tag trotz des schlechten Wetters noch einen sehr netten Abschluss.
3. Juli
Na, was soll ich sagen: Der Tag beginnt mit Regen und Nebel. Und der Gewissheit, dass ich auf dem Jakobsweg bin. In Oberkochen leuchtet mir das Muschelzeichen entgegen. Ebenso wie das Zeiss-Logo. Es ist verrückt, wie viel diese Firma hier neu baut, gefühlt laufe ich kilometerweit an den Baustellen entlang.
Kurz vor Heidenheim, genauer in Königsbronn, belohne ich mich für 1111 gelaufene Kilometer in einem sehr netten Café. Das ist im Georg Elser Museum untergebracht. Georg Elser hat in Königsbronn seine Jugend verbracht. Bekannt wurde er durch das leider missglückte Attentat auf Hitler im November 1939.
In Schwaikheim nehme ich spontan den Zug, der in dem Moment einläuft, als ich am Bahnhof ankomme. Der Regen und die Kälte heute waren sehr unangenehm, ich habe noch keine Unterkunft, und, naja, der Zug fährt eben gerade ein. Ein paar Stunden später falle ich in Reutlingen in mein eigenes Bett.
Frühstück bei Guido in Tübingen. Mit ihm war ich letztes Jahr nach Lindau unterwegs, dieses Jahr will er mich ab dem 14 Juli ein paar Tage begleiten. Wir planen, wie das gehen soll, dann nehme ich den Zug über Aalen nach Heidenheim. "Moment", wird der aufmerksame Leser sagen, "da fehlt das Stück zwischen Schwaikheim und Heidenheim." "Jaja", antwortet der beeindruckte Autor. "Das hole ich nach."
Zur Wiedereingliederung wird es heute mit 11 Kilometern eine kurze Etappe, die ich ohne Pause bewältige. Das Wetter könnte sich nicht deutlicher von dem am Mittwoch letzter Woche unterscheiden. Es ist sonnig und heiß.
Der Rucksack, den ich dankenswerterweise von einer Freundin bekommen habe, ist ein Segen. Er ist zwar etwas schwerer und hat weniger Fächer als mein eigener, ist dafür aber deutlich angenehmer zu tragen. Das ist sicher ein Grund dafür, dass es heute richtig zügig voran geht. Der andere ist ein Anruf von Felix, meinem ältesten Sohn, wir unterhalten uns fast eine halbe Stunde lang, was echt viel ist für zwei so wortkarge Jungs wie wir es sind.
Herberge finde ich heute in einer Pilgerunterkunft in Giengen an der Brenz. Will heißen: Ich habe ein ganzes Haus für mich alleine! Inklusive Dusche, Küche und Tischkicker. Na gut, duschen und kochen geht alleine, auch wenn es zu zweit mehr Spaß macht. Tischkickern geht nicht alleine, also lasse ich es bleiben. Stattdessen gehe ich früh ins Bett, denn ich will morgen früh los, weil es so richtig heiß werden soll. Vielleicht schaffe ich einen großen Teil der knapp 30 Kilometer bevor die große Hitze einsetzt. Mit Sushi und Erdbeeren im Bauch verziehe ich mich. Gute Nacht und träumt etwas Schönes.
9. Juli
Der Wecker klingelt um 5 Uhr. Besser gesagt, Norah Jones weckt mich sanft mit "Sunrise". Dabei geht die Sonne erst in einer halben Stunde auf. Immerhin ist es schon hell. Ich frühstücke eine Kleinigkeit, packe und bin schon kurz nach 6 Uhr unterwegs.
Die erste Sperrung meiner Strecke ignoriere ich und bin bald darauf auf der Hochfläche über Giengen. In der Ferne treibt die Sonne den Nebel aus dem Boden. Das verleiht dem Morgen etwas zusätzlich Friedliches.
Es wird heute heiß werden, daher mein frühes Aufbrechen. Wir werden sehen, ob meine Idee aufgeht. Dem Navigationssystem trotze ich immer wieder ein paar Meter durch Abkürzungen ab; am Ende summiert sich das auf über einen Kilometer, den ich mir heute spare. Der Preis dafür ist, dass ich viel über Asphalt laufe. Ab etwa 10 Uhr wird die Angelegenheit recht schweißtreibend, auch, weil ich mir recht wenig und bis auf eine Ausnahme auch eher kurze Pausen gönne. Während einer dieser Pausen setze ich mich auf eine Bank und stütze mich auf meinen Knien ab, während ich sitzend den restlichen Verlauf der Tagesetappe auf dem Handy studiere. Aus den Augenwinkeln sehe ich etwas Dunkles auf mich zuhüpfen. Ich tippe auf einen Spatz und beachte ihn nicht weiter. Das Tierchen will aber offensichtlich nicht ignoriert werden, und so staune ich doch, als kein Spatz sondern ein Eichhörnchen an meinem Wanderstiefel schnuppert. Der Geruch scheint nicht attraktiv genug zu sein. Leider schaffe ich es nicht, das Handy schnell genug auf "Kamera" umzustellen, und das Eichhörnchen verschwindet wieder.
Um Viertel nach zwei bin ich tatsächlich am Campingplatz "Silbersee", dem Ziel meiner heutigen Etappe, und entkomme so wie geplant und erhofft der größten Hitze. Auch wenn ich ziemlich müde bin, das mit dem frühen Aufstehen werde ich wiederholen.
Und, nein, ich werde nicht nach dem Schatz im Silbersee tauchen ...
Einen Zeltaufbau und eine Dusche später sitze ich auf der Sonnenterrasse des Restaurants am See - natürlich ein Italiener -, esse zu Abend und schreibe das Konzept für den Blog.
Ich sehe, dass der Akku meines Handys ziemlich leer ist. Während ich zurück zum Campingplatz gehe, fällt die Ladung sogar unter 10%, es ist also höchste Zeit, aufzuladen. Auch der Campingplatz hat eine Terrasse, dort finde ich eine freie Steckdose. Jetzt ist Geduld gefragt, denn das Laden geht nur langsam vonstatten.
Kaum sitze ich, kommt ein ziemlich offensichtlicher Dauercamper auf mich zu: "Sind Sie der Mann, wo von Sylt hergelaufen ist?" "Wo." ich bin eindeutig in Schwaben. Und zwar im bayerischen Teil. Ich bin ziemlich überrascht, wie schnell sich meine Wanderung herumgesprochen hat, habe ich doch bisher erst ein oder zwei Leuten hier davon erzählt. Irgendwann Stöpsel ich das Telefon aus der Steckdose und an die Powerbank, mir dauert das Laden hier einfach zu lange. Die 20% der Powerbank sollten reichen, das Telefon bis morgen auf 100% Ladung zu bringen.
Jetzt sind es "nur" noch etwa 180 Kilometer bis Garmisch, also etwa 9 Wandertage. Dann ist die Zugspitze an der Reihe; davor habe ich mächtig Respekt. Danach sind es ungefähr 130 Kilometer oder etwa 6 Tage nach Oberstdorf, und noch mal einen oder zwei Tag zum Haldenwanger Eck. 16 bis 17 Wandertage plus Zugspitze. Schaffe es bis Ende Juli? Ich habe meine Zweifel. Vor allem die Zugspitze beginnt in meinem Plan zu kippen, eventuell hole ich deren Besteigung nach.
Ich verkrümle mich ins Zelt. 21 Uhr - Schlafenszeit.
10. Juni
Nora weckt mich pünktlich um 5 Uhr, und es ist eindeutig zu früh. Das Zelt hatte noch keine Chance, den Frühtau abzuschütteln.
Mein Blick wandert auf Telefon und Powerbank. 75% hier, 0% da. Mist, was war da los? Offensichtlich habe ich in Sachen Powermanagement noch Lernpotenzial: Ich hatte die GPS-Funktion angelassen, und die zieht anscheinend ziemlich Strom. Na gut, wird schon gehen. Spoiler: Es geht tatsächlich alles gut.
27 Kilometer will mir den Navi-App heute abverlangen. Ich diskutiere wieder einmal etwas mit ihr, und wir einigen uns schließlich auf 23 km. Die Wege sind vielleicht nicht so schön, aber hier zählt die Länge. Natürlich gibt es ein Frühstück in einem Café, am Zeltplatz war zunächst nur eine Banane drin. Kurz danach bin ich aus der Stadt Burgau draußen und laufe am schönen Waldrand entlang. Die Schönheit kann ich allerdings nicht sehr genießen, ich werde von ca. einer Trillion Stechmücken gejagt. Die sind wegen des gerade vergangenen Hochwassers dieses Jahr sehr zahlreich. Hatte ich nicht gesagt, dass das eine der drei größten Gefahren ist? Hand aufs Herz, wer hatte an der Stelle gelacht? Eine der Mücken jedenfalls muss vorher an einem ganz üblen Platz gewesen sein. Ihr Stich an meinem rechten Knie ist am Abend dick, rot, warm und schmerzhaft. Ich hoffe, dass das nichts Ernstes wird.
Ich erweitere das mit den Stechmücken als Gefahr, denn kaum habe ich die hinter mir gelassen, nehmen mich die Bremsen in die Mangel. Dass es die hier in der Gegend häufiger gibt, wusste ich aus meiner Zeit bei der Bundeswehr in der Nähe. Wenn wir am Donauufer entlang marschiert sind, haben sich die Bremsen schon auf unsere Kleinsten gefreut: Weil wir der Größe nach marschieren mussten, und die Größten vorne liefen, hatten nur die Kleinsten niemanden, der ihnen die Bremsen vom Rücken schlagen konnte. Und die Bisse gingen sogar durch die dicken Uniformhemden durch.
Das Donauufer habe ich heute weitgehend gemieden.
Der zweiten Gefahr - fliegende Golfbälle - kann ich heute ausweichen, es hätte knapp werden können ...
Jetzt bin ich also südlich der Donau und südlich der Autobahn A8. Und damit eindeutig in Süddeutschland.
Der Campingplatz heute gehört zu einer Wakeboardanlage. An Kabeln werden die Wassersportler zwei verschiedene Rundkurse entlang gezogen. Das funktioniert wie eine Art horizontaler Skilift. Es gibt ein paar Hindernisse, die die Boarder umfahren oder überfahren können. Ein großes Hindernis scheint der Einstieg zu sein: Die Boarder springen ins Wasser und hoffen, eine Leine zu erwischen. Manche sind so richtig voller Hoffnung, ich sehe sie mehr an der Liftschlange als auf dem Wasser. Trotzdem macht es Spaß zuzusehen, von der sonnigen Terrasse aus mit einem kühlen Getränk.
11. Juli
Ich will nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen, aber die Mücke hat aus meinem rechten Bein einen Elefantenbein gemacht. Prall gefüllt ist es, und ich habe das Gefühl, dass es sofort platzt, wenn ich mich ein wenig stoße. Das raubt mir den Spaß am Weg, der mich am Herrgottsberg, an Maria Vesperbild und an der Fatimagrotte vorbei in die dunklen Augsburger Wälder führt. Vielleicht hätte ich an all den religiösen Stätten nicht vorbeigehen sollen ...
Heute kämpfe ich weniger gegen die Mücken, da ich die Hose lang trage und des Wetters wegen die Regenjacke. Unnötig zu sagen, dass ich unglaublich schwitze.
Bei meiner zweiten Pause, etwa 2 km vor Fischach, konsultiere ich meinen Privatarzt Schwager Manfred wegen des Beins. Seine Ferndiagnose lautet: Weichteilinfekt. Er empfiehlt mir, zu einem Arzt zu gehen, und bestätigt damit meinen Entschluss.
Ich finde einen Doktor in Fischach und gehe davon aus, dass er um 12 Uhr für den Vormittag schließt. Ich habe eine Stunde Zeit und ca. 4 Kilometer vor mir. Also lege ich einen Zahn zu, - mit einer solchen Motivation, einem solchen Ziel, geht das immer! Als ich Viertel vor 12 ankomme, ist der Arzt gerade zu seinem Hausbesuchen ausgeflogen. Er ist ab 16 Uhr wieder in der Praxis, also ist Warten angesagt. Die Sprechstundenhilfe empfiehlt mir, das Bein zu kühlen, am besten in der nahe gelegenen Kneippanlage. So nah ist sie dann doch nicht, und ich bin froh, als ich mein Bein ins Wasser halten kann.
Es bleibt nicht beim Bein: Nachdem es mindestens 10 Minuten still da lag, beschließt mein Handy, dass es ebenfalls Abkühlung braucht und stürzt sich todesmutig in die Fluten. Ein Unglück kommt offensichtlich selten allein ... Das Telefon funktioniert zum Glück noch, allein die Warnung, die auftaucht, als ich es beim Arzt später aufladen will, erschreckt mich: Ich soll sofort den Stecker entfernen. Hoffentlich gibt sich das.
Jedenfalls bestätigt der Arzt die Diagnose und zeigt mein Bein schwer beeindruckt seine Sprechstundenhilfe. Er entlässt mich mit einem Rezept für ein Antibiotikum, das angeblich schon morgen anschlagen soll. Er empfiehlt mir außerdem dringend, dass ich morgen noch mal einen Arzt aufsuche, damit der das Bein kontrollieren kann.
Mittlerweile ist es nicht mehr nur zu spät, sondern ich bin auch zu müde, um in meine Unterkunft für heute zu wandern. Es wären noch 15 Kilometer, keine Chance mehr. Also nehme ich den Bus und lasse den Teil sausen. Apropos "sausen lassen": Auch die Zugspitze wird, wie die Wartburg, auf ein anderes Mal warten, ich habe beschlossen, von Garmisch-Partenkirchen direkt nach Oberstdorf zu gehen. Warum Garmisch? Weil Guido und ich unsere Unterkünfte entsprechend gewählt haben.
Im Bus jammert eine junge Frau ihrem nicht minder jungen Begleiter die Ohren voll, dass ihr so langweilig wäre. "Warum", so beschwert sie sich, "hat uns niemand gesagt, dass wir nach dem Abi so viel Zeit haben?"
Warum, so frage ich mich, hat sie das Abi bekommen, wenn ihr das nicht klar war.
Wegen des Beins werden die nächsten Tage sicher lockerer, ich will meine Kraft hauptsächlich für die Genesung nutzen. Ihr werdet erfahren, wie es weitergeht, wenn Ihr demnächst wieder hier vorbeischaut.
12. Juli
Den zweiten Arztbesuch, den mir der Doktor in Fischach empfohlen hatte, schenke ich mir aus zwei Gründen: Erstens geht es dem beim Bein sichtbar besser, zweitens ist das Wartezimmer der Praxis in Wehringen bereits vor Beginn der Sprechstunde brechend voll. Die Zeit investiere ich dann lieber in ein ausgiebiges Frühstück beim Dorfbäcker.
Nach dem Auschecken geht es den Kirchberg hinauf und raus aus dem Ort - und da sehe ich sie zum ersten Mal auf dieser Reise: Die Alpen. Zwar wolkenverhangen und hinter Regenschauern verborgen, aber immerhin! Das löst einen Motivationsschub aus und lässt alles andere vergessen. Mein Ziel wird auf einmal realer und greifbarer.
Da ich mein Bein noch etwas schonen will, endet die Wanderetappe heute nach bereits 12 Kilometern in einem sehr netten Kaffee in Klosterlechfeld. Michael und David, die beiden Besitzer, sprechen mich auf meinen Rucksack an. Das wird der Beginn eines längeren Aufenthaltes. Ich fühle mich total wohl hier. Als Michael von meiner Entzündung hört, springt er auf und kommt wenig später mit einem Fläschchen mit klarer Flüssigkeit zurück. Er ist Aromatherapeut und hat mir auf die Schnelle ein Mittel zum Einreiben zusammengemixt. Vielen Dank an dieser Stelle dafür!
David erzählt mir von seiner Vespatour durch sein Heimatland Kanada. Sieben Wochen hat die Reise gedauert, er hätte bestimmt noch viel mehr zu berichten. Außerdem erfahre ich, dass ich mal wieder Glück habe, denn das Café hat nur Freitag, Samstag und Sonntag geöffnet - und heute ist Freitag. Die beiden Betreiben des Lokal, weil die Vorbesitzerin aus gesundheitlichen Gründen aufgehört hat und sie nicht wollen, dass das Café deshalb schließt. Später setzen sich noch ein paar Stammgäste dazu und ich komme mir fast so vor, als wäre ich in die kleine Gemeinde integriert.
David und Michael - es war sehr schön bei Euch, ich hoffe, dass ich mal wieder zu Gast bei euch bin!
Ich breche auf Richtung Bahnhof, der Zug bringt mich nach Landsberg am Lech und ich trudle dort nach einiger Verwirrung bei der Dachgeberin Eva ein. Die Verwirrung kommt daher, dass die Hausnummern in Landsberg nicht wie sonst nacheinander aufgereiht sind, sondern den Baujahren folgend. Na gut, auch das ist eine Methode.
Eva wohnt in einem der Türme Landsbergs. Es geht eine enge Treppe hoch, und gleich noch eine. Die Wohnung ist klasse, einfach zum Wohlfühlen. Eva hat eine sehr bewegte und interessante Vergangenheit. Was uns verbindet ist, dass sie längere Zeit wandernd unterwegs war, allerdings nahezu ohne Geld. Ich komme mir richtig verschwenderisch vor. Wir unterhalten uns lange über Gott und die Welt und unsere Geschichten. Dann entscheiden wir, im indischen Restaurant essen zu gehen. Den Tisch draußen räumen wir gerade noch rechtzeitig vor dem großen Platzregen. Am nächsten Tag erfahre ich, dass ein regelrechtes Unwetter nicht weit entfernt getobt hat. Wie so oft habe ich wieder einmal Glück mit dem Wetter.
13. Juli
Nach dem Frühstück begleitet Eva mich noch ein Stück mit dem Fahrrad. Irgendwann ist der Weg nicht mehr geeignet für ein Rad, und unsere Wege trennen sich. Vielen Dank, Eva, und alles Gute für deinen nächsten Schritte
Bald darauf wird der Weg sogar für mich fast unpassierbar, dem Unwetter von gestern sei Dank. Und ich lerne Gefahr Nummer vier kennen: Aggressive Mäusebussarde. Ein Schild warnt davor und empfiehlt eine Kopfbedeckung. Hm ... Schutzhelm beim Waldspaziergang? Immer wieder mal was Neues.
Am Lech entlang gehe ich gut gelaunt nach Süden, das Wetter ist bestens für eine Wanderung geeignet. Mein linkes Bein macht hervorragend mit, auch wenn es immer noch geschwollen ist. Zum Glück ist die Schwellung lange nicht mehr so stark.
Irgendwann schießt es mir durch den Kopf, dass ich einen ziemlich großen Planungsfehler gemacht habe. Ich hatte mich schon lange gefragt, wann mir so etwas passiert. Heute, an einem Dreizehnten, ist es soweit: Aus welchen Gründen auch immer war ich bis jetzt der Meinung, dass Guido heute nach Schongau kommt und mich notfalls irgendwo an der Strecke abholen kann. Nachdem ich ihn mehrfach telefonisch nicht erreiche, fällt es mir ein: Heute hat seine Tochter Ella Firmung, und Guido kommt erst morgen. Also habe ich auch erst morgen ein Quartier, und Guido kann mich heute nirgends abholen. Da es Samstag ist, fahren hier keine Züge und kein Bus mehr. Was also tun? Erstmal Pause einlegen und überlegen. Dazu mache ich einen kleinen Umweg nach Denklingen. Vielleicht findet sich hier ja sogar ein "Zimmer frei"-Schild? Ein Jugendlicher sieht mich unschlüssig das Display meines Handys studieren und fragt mich, was ich suche. "Ein Gästezimmer. Oder einen Platz, an dem ich mein Zelt aufbauen kann", ist meine Antwort. Gästezimmer gebe es keine, meint er, aber - und damit zeigt er mir einen Platz auf der Karte des Handys - hier könne ich zelten, da käme nie jemand, wenn er sich mit seinen Freunden dort trifft und Musik hört. Ich bedanke mich und ziehe das kurz in Betracht, gehe aber weiter zum erstaunlich großen Vereinsheim des hiesigen Fußballclubs. Ein Spiel läuft gerade. Mich beeindruckt der Schiedsrichter, der mit einem minimalen Bewegungsradius auskommt. Dafür ist sein Bauchradius etwas größer. Nach der Portion Allgäuer Kässpatzen gehe ich pappsatt weiter. Leider hat mich niemand gefragt, ob ich nicht bei ihm schlafen will. Egal, bist Schongau ist es noch weit, da habe ich noch viel Zeit, eine Schlafmöglichkeit zu finden. Ich bin fast bereit, wild zu campen, rufe aber lieber bei zwei Dachgebern an. Leider erreiche ich nur deren Anrufbeantworter. Mist. Na gut, es wird sich etwas finden, ich bleibe optimistisch. Ein paar wenige Kilometer vor Schongau suche ich mir dann doch ein Hotelzimmer. Kurz nachdem ich gebucht habe, ruft eine der Dachgeberinnen an. Sie sei gerade mit ihrer Tochter auf der Suche nach einer Unterkunft in Schweden. Das wäre also ohnehin nichts geworden. Die andere Dachgeberin meldet sich nicht, und so bin ich froh, ein Hotelzimmer zu haben. Prompt klingelt das Telefon und ein Angestellter des Hotels fragt, ob ich wohl heute noch käme. "Natürlich", antworte ich. "Ich bin zu Fuß unterwegs und noch etwa 3 Kilometer vom Hotel entfernt." "Das dauert dann ja noch, dann bin ich schon außer Haus." Na prima, es läuft mal wieder richtig gut. Aber der Hotelangestellte hat eine Möglichkeit parat, wie ich doch ohne ihn einchecken kann.
Nach insgesamt knapp 33 Kilometern komme ich schließlich ziemlich erledigt im Hotel an, finde den Rucksack ab, ziehe die Wanderstiefel aus und falle ins Bett. Mitsamt Klamotten schlafe ich erstmal zwei Stunden und gehe dann duschen.
Ich freue mich auf den Ruhetag morgen
14. Juli
Pausentag, zum Glück. Auch ein Glück ist, dass ich erst um 12 Uhr auschecken muss. Ich schlafe lange, dusche und packe meine Sachen. Das Hotel bietet sonntags kein Frühstück an und so sehe ich auch beim Abschied kein Personal. Das fühlt sich schon seltsam an.
Um 11: 30 Uhr sitze ich im Schatten eines großen Baumes mitten in Schongau. Der Tisch gehört zu einem kleinen Café, dessen Angestellte mir gerade noch ein Frühstück bereiten. Es geht mir richtig gut! Meinem Bein übrigens auch, das sieht fast schon wieder normal aus.
Ich setze mich hier fest.
Irgendwann ruft Guido an. Er hat unsere Unterkunft für die nächsten Tage bezogen und macht sich auf den Weg zu mir. Bis Samstag werden wir gemeinsam wandern.
Unter dem Baum setzt sich dann auch Guido fest, jetzt geht es uns beiden richtig gut. Als es uns gut genug geht, erkunden wir Schongau und finden Uschi, die Hexe, die im Kasselturm ihre Schätze bewacht. Dazu gehört auch das Unsterblichkeitskraut. Offensichtlich ist es sehr wirksam: Uschi sagt, sie lebe schon 500 Jahre her. Und dabei sieht sie noch immer sehr attraktiv aus. Zu ihrer Sammlung gehören Tränke und Tinkturen, Teller und Tassen, Totenschädel und anderer Tand - eben alles, was sich in 500 Jahren so ansammelt.
Wir ziehen weiter und sehen von der Stadtmauer aus ein paar älteren Leuten beim Mensch-ärgere-dich-nicht Spiel zu. "Jeder gewinnt mal", ruft uns ein älterer Herr auf unsere Frage zu.
Dann gönnen wir uns ein Eis im einzigen Eiscafé des Ortes. Ein oder zwei Pärchen kriegen sich in die Wolle, weil der Service des Monopols etwas länger dauert. Guido und ich sehen dem Treiben gelassen zu, wir haben schließlich Urlaub.
15. Juli
Mit einigem Respekt geht es an die heutige Etappe nach Steingaden. Die Planung ist etwas durcheinander geraten, weil ich die Zugspitze verschoben habe. Also in meiner Planung verschoben, natürlich nicht in der Realität. Es war ursprünglich so gedacht, dass wir uns von Schongau aus nach Oberammergau und von dort nach Garmisch-Partenkirchen hangeln. Mit dem Wegfall der Zugspitze ist das wenig sinnvoll für meine Deutschlandtour, auch wenn wir unsere Quartiere schon in eben diesen Orten gebucht haben und nicht mehr kostenlos stornieren können. So wird es mehr Autofahrerei als ursprünglich gedacht. Guido trägt das Gott sei Dank mit großer Ruhe mit.
Die Wanderung nach Steingaden jedenfalls ist richtig schön. Durch viel Waldgebiet, am Lech und am Lechstausee Urspring entlang, ein wenig Zick, ein bisschen Zack. Während einer Pause am Lech begrüßt uns ein friedlicher Hund, beschnuppert uns und geht immer wieder ins Wasser. Sehr nett, so wünscht man sich einen Hund. Halb hoffen, halb befürchten wir, dass er uns begleitet. Als wir aufbrechen, bekommen wir Ablösung, der Hund bleibt.
Kurz vor dem heutigen Ziel haben wir auf der Wander-App einen Gasthof ausgemacht, den wir voller Vorfreude auf eine gemütliche Pause ansteuern. Dumm nur, dass der Gasthof montags geschlossen hat. Wir suchen uns trotzdem ein schattiges Plätzchen im schönen Biergarten, immerhin haben wir etwas zu essen und trinken dabei. Kaum sitzen wir unter der ausladenden Kastanie geht die Tür zum Wirtshaus auf und die Chefin begrüßt uns mit "Ihr wisst's scho, dass mir g'schlossen ham?" Zeit, uns zu entschuldigen und zu antworten, dass wir uns einfach ein wenig ausruhen wollen, bekommen wir nicht. "Aber wenn Ihr scho do seit's .... Was zum Tringa könnt's ihr scho ham." Na, da bestellen wir doch gerne was. "Wollt's auch was zum Essa? I könnt an Leberkäs' macha." Auch da sagen wir nicht "nein". Und dann kommt die Frage, über die sogar die Wirtin ein wenig lächelt: "Wollt's ihr oa Oa od'r zwoa Oar?" Wir grinsen und bestellen natürlich 2 Eier. Eine Viertelstunde später stehen nicht nur 2 Pfannen mit Leberkäse und Spiegeleiern vor uns auf dem Tisch, wir sind auch nicht mehr die einzigen Gäste im Biergarten. Gastfreundschaft und Geschäftstüchtigkeit gehen eben gut einher.
In Steingaden haben wir fast 19 Kilometer bewältigt. Das wird die längste Etappe für unsere gemeinsame Zeit bleiben. Der Bus bringt uns zurück nach Schongau zu unserem Apartment.
16. Juli
Von Steingaden wandern wir heute über Steingädele - kein Witz - nach Roßhaupten. Wieder liegt eine schöne Etappe vor uns, die uns mit wunderbaren Aussichten sowie einem Badeweiher belohnt, in denen wir am liebsten springen würden.
Tier des Tages ist heute kein Hund, sondern gleich ein paar Schweinchen, die zwischen Stallwagen und Wiese herumtollen und im Matsch wühlen dürfen. Man sieht, dass sie sich sauwohl fühlen.
Das Wetter hält sich heute etwas bedeckt, es ist etwas kühler bewölkt und ideal zum Wandern. Gegen Langeweile helfen die Aussichten auf die Berge und unsere gegenseitigen Foppereien. Wir überlegen, ob wir als Stand-Up Comedians Erfolg haben würden. Mal sehen ...
In Roßhaupten sind wir beide recht erschöpft. Die Wartezeit auf den Bus versüßen wir uns - wie könnte es anders sein - mit Cappuccino und Kuchen.
17. Juli
Da die Auto- und Busfahrten immer länger werden und wir heute auch noch die Unterkunft wechseln, werden die Wanderetappen kürzer. Heute gehen wir von Roßhaupten nach Hopferau, das sind nur knapp 13 Kilometer. Aber die schaffen uns heute. Belohnt werden wir mannigfaltig. Ein sensationeller Blick eröffnet sich uns, als wir eine kleine Anhöhe bewältigt haben: Hinter dem Forggensee sehen wir vor den Bergen mit Neuschwanstein und Hohenschwangau die zwei Ludwig-Schlösser, und etwas weiter rechts das Schloss von Füssen liegen. Wirklich ein fantastischer Anblick!
In Hopfen laufen wir an zwei eingewachsenen Autos vorbei. Wir fragen uns, wer wohl solche Werte vergammeln lässt und warum, welche Geschichte wohl dahinter steckt. Allerdings ist auch das zugehörige Haus in keinem besseren Zustand. Schade drum.
Die Uferpromenade am Hopfensee ist erstaunlich wenig besucht, das habe ich schon anders erlebt. Platz in einem Café ist schnell gefunden, und wir stärken uns für den Restweg nach Hopferau.
Auf dem Rückweg nach Roßhaupten machen wir noch einen Abstecher zur Wieskirche, auch wenn ich Kirchen mittlerweile nicht mehr viel abgewinnen kann - kennst du eine Kirche eine Epoche und Gegend, kennst du alle - ist die Wies doch noch etwas Besonderes.
Heute Abend ist die letzte Antibiotikum-Pille fällig. Das Bein ist wieder schlank und rank und es geht ihm wieder bombig, alles ist gut.
18. Juli
Heute protzen wir nicht mit der Länge der Etappe, sondern mit einem Höhenunterschied: Von Kilometer drei bis zu Kilometer viereinhalb geht es um 160 m hoch, stellenweise bis zu 17% Steigung sind drin. Für uns zwei Flachlandtiroler ist das ganz schön, auch wenn sich alle echten Bergwanderer über solche Zahlen sicher eher amüsieren. Auf der Alm hier oben jedenfalls stärken wir uns erst einmal, bevor wir weiter wandern.
An einer Stelle entscheiden wir uns für den schönen statt den kurzen Weg, was uns etwa einen Kilometer zusätzlich eindringt. Apropos "Kilometer". Heute bringe ich wieder mal eine Marke hinter mich: 1300 Kilometer habe ich jetzt erwandert. Ich war nie sicher, dass ich soweit kommen würde. So schön, interessant und lustig es auch immer wieder ist, ich freue mich auf zu Hause und bin froh, dass ich nur noch etwa 100 Kilometer vor mir habe. Dabei ist es kurios, wie sich Maßstäbe verschieben. "Nur noch" 100 Kilometer. Bis April hätte ich das für einen wahnsinnig langen Weg gehalten. Und auch vor ein paar Tagen ist mir etwas Seltsames passiert: Bei einem Straßenschild "Augsburg 43km" hätte ich früher im Auto sitzend gedacht: "In etwa einer Dreiviertelstunde bin ich da." Jetzt ist mein Gedanke: "Zwei Tagesetappen, das ist gut zu schaffen." Sehr lustig, wie sich das verändert hat.
Tier des Tages ist übrigens ein gelb-schwarze Riesenkäfer, der sich in Guidos Mütze zu verstecken versucht hat. Vielleicht weiß von euch jemand, was das für ein Käfer ist?
Nesselwang ist heute unser Ziel. Die letzten Kilometer entscheiden wir uns für "kurz" statt "schön" und werden in praller Sonne auf einem Radweg entlang der Bundesstraße geführt. Das ist sehr anstrengend. Kurz vor Nesselwang machen wir nochmals eine Pause, wir müssen dringend etwas trinken. In Nesselwang selber haben wir dann einen Minigolfplatz für uns alleine. Zumindest so lange bis wir unsere erfrischenden Getränke vom Glas in den Magen umgefüllt haben. Dann stürmt eine 24-köpfige 6. Klasse auf den Minigolfplatz ein. Wir flüchten zum Bahnhof.
19. Juli
Lukas, mein jüngerer Sohn, hat er sich schon für gestern angekündigt. Weil sein Bus aber zwei Minuten zu früh abgefahren ist, hat er den Zug von Augsburg nach Füssen verpasst. Heute klappt es besser, Guido und ich holen ihn am Bahnhof ab und fahren nach Nesselwang. Damit hat er die kürzeste Etappe im Allgäu erwischt. Die 10 Kilometer nach Wertach könnte er wahrscheinlich joggen, Guido und ich gehen langsam.
Auch heute begrüßen uns wieder schöne Landschaften. Es ist allerdings sehr heiß und wir sind für jeden Schatten dankbar. Eine Pausenstation finden wir im Vereinsheim eines Anglerclubs am Grüntensee. Sitzen tut auch heute gut.
Ich bin etwas entsetzt, als ich sehe, dass mein Telefon offensichtlich über Nacht nicht geladen hat und jetzt auf 7% Ladung abgesagt ist. Im Vereinsheim darf ich aufladen. Puh ...
Währenddessen wird Lukas gefragt, ob man hier am See baden kann. "Ja klar", antwortet er. "Ich war gerade drin, ist echt cool!" Lukas eben ...
Jetzt ist Wertach nicht mehr weit, der Weg ist allerdings der Sonne ziemlich ausgesetzt. Wir sind alle drei froh, im Ort anzukommen und uns stärken zu können. Das Dorffest, dessen Aufbau gerade im Gang ist, werden wir leider verpassen, wir fahren vor Beginn zurück nach Nesselwang. Ein wiederholtes "Hoch" dem Deutschland-Ticket, das wir alle drei haben.
In Nesselwang verabschiedet Lukas sich wieder. Es war schön dass du dabei warst!
20. Juli
Pausentag, zum Glück. Ich merke, wie mein Körper müde wird und sich nach Ausspannen sehnt. Guido und ich sind mittlerweile in Garmisch-Partenkirchen gelandet. Genauer: In Partenkirchen. Denn wie wir lernen, sind die 2 Teile des Doppelortes sehr unterschiedlich. Partenkirchen kommt uns eher ruhig vor, ja, auch touristisch, aber entspannt. Garmisch dagegen wirkt voll, etwas hektischer, trubeliger.
Nach dem Besuch bei der eindrucksvollen Skisprungschanze - eigentlich sind es 4, von "Anfänger" bis "Skiflieger" - und, natürlich, einem Cappuccino in Garmisch fahren wir nach Ettal, das berühmte Kloster besichtigen, soweit es eben geht. Vor etwa eineinhalb Jahren war ich mit Elke hier, und schon damals haben wir über die wuchtige Anlage gestaunt. Heute bereitet mir die Erinnerung an den Besuch von damals schmerzliche Gefühle, ich bin froh, dass Guido einen Anruf bekommt und ich ein paar Minuten für mich habe. Wir besichtigen die riesige Klosterkirche, die sich abermals von den anderen Barockkirchen nur dadurch unterscheidet, dass sie noch pompöser, noch größer ist. Und ja, es ist nicht nur eine Kirche, sondern eine Basilika ... Die Einladung des Cafés schlagen wir aus, trotz der netten Tafel davor: "Die freundliche Selbstbedienung heißt Sie herzlich willkommen!" Wir fahren weiter nach Kempten.
In Kempten beziehe ich ein Hotel. Da Hotels übrigens auch meine Unterkünfte in Sonthofen und Oberstdorf sein werden, ist Guido so nett und nimmt mein Zelt und alles, was dazu gehört, mit nach Tübingen; ich werde fortan leichter unterwegs sein und alles nach meiner Rückkehr bei ihm wieder abholen.
Kempten ist sehr sehenswert. Wir streichen ein wenig durch die Altstadt und lassen uns schließlich bei der einzigen Kaffeerösterei des Ortes nieder. Guido ist unsicher, was er bestellen soll und fragt die Bedienung, was ein Crodino sei. Die Dame meint, da müsse sie nachfragen, und ich springe ein: "Das ist ein kleiner, italienischer, alkoholfreier Aperitif." Die Bedienung ist erleichtert, Guido sagt, er wolle was Kaltes. Daraufhin klugscheiße ich: "Crodino ist ein kleiner, kalter, italienischer Aperitif." Das Pärchen, an dessen Tisch wir uns gesetzt haben, lacht, und ich setze einen drauf: "So sind wir eben, wir machen Stand-Up Comedy." Das Eis mit den Nachbarn ist gebrochen, und wir kommen in ein nettes, wenn auch kurzes Gespräch. Ach ja: Guido entscheidet sich gegen den Crodino ...
Später stellt sich uns die Frage, warum ausgerechnet bei der Rösterei so wenig los ist. Wir zücken unsere Marketing-Hintergründe und entwerfen Konzepte für den Laden, stellen fest, was unserer Meinung nach fehlt bzw. geändert gehört, philosophieren vor uns hin. Natürlich wissen wir beide besser als der Besitzer, was funktioniert, behalten unsere Weisheiten aber für uns.
21. Juli
Norah weckt mich mal wieder viel zu früh. Der Grund dafür ist, dass ich heute ein etwas größere Strecke vor mir habe und zu deren Anfang erstmal mit Bahn und Bus kommen muss. Der Zug geht bereits um halb 8 ab Kempten, zum Glück sind die Angestellten des Hotels flexibel und bieten mir das Frühstück bereits ab 6:40 Uhr an. Um 8 Uhr stehe ich in Wertach am Rathaus - und bin erstmal froh, dass die öffentliche Toilette auch am Sonntag geöffnet hat ...
Dann geht es los, eine ganze Weile ständig bergauf, bis ich um 10 bei einer bewirteten Hütte ankomme. Die zwar "eigentlich erst um 11" öffnet, "aber da der Wirt schon da ist ..." Wieder einmal treffen sich Gastfreundschaft und Geschäftstüchtigkeit, wieder einmal bleibe ich vor offizieller Öffnung nicht der einzige Gast.
Kurz vor Sonthofen laufe ich auf einer Straße bergab, als neben mir ein Auto hält: "Wuist mitfoahrn?" Ich bedanke mich und lehne natürlich ab, ich will ja zu Fuß den Weg bewältigen. Obwohl ... schön wär's schon gewesen, gerade heute ...
Nach 19 Kilometern erreiche ich mein Hotel für heute, direkt am Bahnhof. Während des Marsches kam mir die Idee, das Gepäck abzuladen, etwas auszuruhen und dann bis Fischen weiter zu gehen. Die Idee setze ich auch genau so um, auch wenn es regnet, als ich mich zur zweiten Etappe des Tages aufmache. Es hört zum Glück bald auf, war auch nicht sehr heftig, sodass ich an der Iller entlang weitere 8 Kilometer Richtung Ziel hinter mich bringe. Es drängt mich auf einmal, das Ende so schnell wie möglich zu erreichen.
Zurück im Hotel genieße ich mein Abendessen, Brot mit Käse. Herrlich, im Bett krümeln zu dürfen ...
22. Juli
Der Zug bringt mich von Sonthofen nach Fischen, wieder einmal freue ich mich über die Deutschlandcard. Von Fischen ist es ein Katzensprung nach Oberstdorf, wo ich hoffe, dass mein Hotelzimmer schon frei ist. Die Dame am Empfang bestätigt mir dies und händigt mir den Zimmerschlüssel auf. Im Zimmer allerdings ist die Putzfrau noch tätig ... Egal, ich habe Zeit und kann ein paar Minuten warten.
Dann beziehe ich das Winz-Domizil für die nächsten beiden Nächte. Immerhin habe ich einen Balkon, den ich nur mit dem Toilettenfenster der Nachbarn teile. Ich lasse alles im Zimmer, was ich für die Wanderung heute nicht mehr brauche - Joggingschuhe, Blechnapf, Zahnbürste etc. - und laufe erneut los. Wenn ich die Tour gestern anstrengend fand, weiß ich heute: Das war nur eine Übung. Es geht bis zu 20% Steigung hinauf zur Bergstation Söllereck in knapp 1400 Metern Höhe (Oberstdorf: Gerade mal etwas über 800 Meter), eine schweißtreibende Angelegenheit. Ich weiß nicht, ob ich die Familien belächeln, beneiden oder bewundern soll, die einfach mit der Gondel hochfahren. Jedenfalls habe ich mir die Pause im Restaurant der Bergstation verdient. Interessant ist dort der Bestellvorgang: Per QR-Code komme ich auf eine Webseite, auf der ich in einen "Warenkorb" legen kann, was ich verzehren will. Und ich kann auch gleich bezahlen. Und ein Trinkgeld hinterlassen. Interessant. Mal sehen, wann sich das auch in anderen Restaurants durchsetzt. Dann braucht es noch Roboter, die den Kunden das Bestellte bringe und das unpersönliche Gasthaus ist fertig.
Natürlich kündigt sich Regen an, als ich wieder aufbreche. Frisch gestärkt kann ich zügiger laufen, weiß allerdings, dass ich das Rennen gegen das Wetter verlieren werde. Als der Regen zu kräftig wird, stelle ich mich unter. Die Kühe auf der Weide neben meinem Schutz scheinen das Gleich machen zu wollen, sie gehen alle auf eine kleine Hütte zu. Aus meiner Perspektive sieht es zunächst tatsächlich so aus, als wollten sie in die Hütte, dann tauchen sie dahinter doch wieder auf. Hätte mich auch gewundert.
Bis Mittelberg gehe ich heute, wieder einmal 26 Kilometer. Ich kaufe noch etwas zum Abendessen ein - und sehe dann den Bus direkt vor meiner Nase abfahren. Mein zugegeben etwas zaghaftes Winken wird ignoriert, also habe ich eine Stunde Zeit, bis der nächste Bus nach Oberstdorf abfährt. Die verkürze ich mir mit dem preiswertesten - nein, nicht Cappuccino - Aperol Spritz seit Langem. Ein Winzhund begrüßt mich freudig am Eingang in die Bar, nur um mich dann zu beißen. Nicht schlimm, es blutet nicht mal, ich brauche keine Bergrettung und keine Tetanus-Spritze, aber fies ist das trotzdem ...
Heute also soll es soweit sein, ich werde mein Ziel erreichen: Den südlichsten Punkt Deutschlands, das Haldenwanger Eck. Ich sehe schon an der Planung, dass die Tour anstrengend wird: Für gerade mal 20 Kilometer setzt die App 8 Stunden Wanderung an. Es geht stellenweise bis zu 27% bergauf - und danach wieder bergab, da ich den gleichen Rückweg nehme wie den Hinweg. Heute morgen beweise ich mal wieder, wie gut ich darin bin, Dinge aufzuschieben: Ich komme einfach nicht weg, immer wieder finde ich etwas, das ich noch tun kann. Schließlich ist es doch soweit und ich steige in Mittelberg aus dem Bus, setze die ersten Schritte - und es geht bergab. Wortwörtlich. Eigentlich will ich ja hoch auf den Berg, aber von Mittelberg aus führt der Weg erstmal runter an die Breitach. Das muss ich alles wieder rauf ... Na gut, immerhin ist der Weg dem Fluss entlang sehr schön. Und bis zur ersten Wirtschaft nach 4 Kilometern ist er auch noch entspannt. Dann allerdings komme ich mehrmals aus der Puste. Und ich dachte, ich hätte mir etwas Kondition aufgeschafft über die letzten 1300 Kilometer ... Bei näherem Nachdenken komme ich dann darauf, dass die Wanderung wenig mit Kondition zu tun hat, mehr mit Kraft und Willen. Und um ehrlich zu sein: Allzu viele Höhenmeter waren bisher nicht dabei. Heute dagegen geht es von rund 1100 Metern auf über 2000 Meter hoch, das meiste davon zwischen Kilometer 4 und Kilometer 7. Jedenfalls keuche ich ganz schön und mache immer wieder mal einen kurzen Halt. Zu Hause lese ich nach, ab welcher Höhe man mit Beeinträchtigungen zu rechnen hat und bin froh, dass der Alpenverein konstatiert: "Ab einer Höhe von 1500 Metern über Meereshöhe hat das auch bei gesunden Menschen Auswirkungen auf die körperliche Leistungsfähigkeit." Puh, Glück gehabt.
Trotz aller Mühen genieße ich das gute Wetter und die sich ständig ändernden Aussichten auf Berge, Wasserfälle, Geröllfelder. Zwei Ziegen stehen mir im Weg, später setzen sich zwei Schmetterlinge auf meinen Rucksack. Das Fauna-Highlight des Tages aber ist das Murmeltier, das ich ganz kurz sehe, bevor es gemütlich in seinem Bau verschwindet.
Der Weg zieht und zieht sich - und hört irgendwann auf. Die App sagt "geradeaus", aber da ist kein mir ersichtlicher Weg. Das kennen wir ja schon. Diesmal lasse ich mich auf keine Suche ein, ich bin zu schlapp. Stattdessen bleibe ich auf der virtuellen blauen Linie, die die App mir anzeigt, übersteige einen Stacheldraht, bin wieder zurück in Deutschland und suche den Grenzstein 147, der laut dem Touristikbüro Oberstdorf bzw. dessen Webseite den südlichsten Punkt Deutschlands kennzeichnet. Was soll ich sagen, es geht mir wie auf Sylt am 3. Mai (was mir gleichzeitig wie eine Ewigkeit her vorkommt und gerade eben erst): Ich finde den Grenzstein nicht. Was ich finde ist ein Gipfelkreuz. Immerhin habe ich damals auf Sylt gelernt, solche Zeichen zu sehen. Und an dem Gipfelkreuz befindet sich eine kleine Messingtafel mit der Aufschrift: "Haldenwanger Eck, 1933 Meter. Südlichster Punkt Deutschlands." Ich habe es geschafft! Und ich bin wider Erwarten mutterseelenallein hier. Was für ein Moment!
Was ich fühle, weiß ich noch gar nicht, Erleichterung? Stolz? Zufriedenheit? Eine Mischung aus all dem plus Fragen wie: "Was kommt jetzt? Wie geht es weiter? Ist die Tour wirklich vorbei? Was habe ich zu essen und zu trinken dabei?" Und der Erkenntnis: Es geht nochmal über 10 Kilometer zurück nach Mittelberg - na toll. Ich mache erstmal Pause, ich bin ziemlich erledigt.
Nach der Pause geht es auf einmal deutlich schneller mit mir. Der Rucksack ist von allem Ballast befreit (diesen Ballast schleppe ich in meinem Magen mit, aber da merke ich ihn kaum). Die "Obere Gemstalalpe" habe ich bereits beim Aufstieg als einen guten Rastplatz für mich ausgemacht, die 5 Kilometer dorthin sollten schnell geschafft sein. Aber sie ziehen sich lang und länger. Schließlich erreiche ich die Alpe und ruhe mich etwas aus. Es ist herrlich hier oben, total ruhig. Bis auf die Kreissäge des Zimmermanns, der gerade die Dielen erneuert ...
Nach der Rast sind es nurmehr weitere 5 Kilometer bis zur Bushaltestelle. Runter ins Breitachtal - das geht gut. Dann aber kommt die letzte Steigung hoch nach Mittelberg - und ich sterbe fast. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch gut Zeit habe, den nächsten Bus zu erwischen. Der fährt immer zur vollen Stunde, wie ich gestern Abend erfahren hatte. Es ist Viertel vor 6, das klappt also gut. Kaum keuche ich den letzten Meter hoch, fährt auch der Bus schon vor. Ich bin nicht der einzige Fahrgast und bin über den Sitzplatz mehr als dankbar. Dann fährt der Bus ab, es ist 10 Minuten vor 18 Uhr. Heute war das Glück auf meiner Seite.
Der Rest des Tages ist der Erholung gewidmet: Sauna (die ich allerdings nach wenigen Minuten abbreche, ist zuviel für mich gerade), Abendessen, Wecker ausstellen. Und mich auf morgen freuen: Da wird es nach einem späten Frühstück mit dem Zug nach Hause gehen. Vorbei an ein paar meiner letzten Stationen: Fischen, Sonthofen, Kempten. Wie schnell das doch mit dem Zug geht, wie viel Zeit ich mir dagegen nehmen konnte.
Ende? Mal sehen ...
Mache ich so etwas noch einmal? Eher nicht, keine 3 Monate. Lange wandern? Eine, zwei, drei Wochen? Schon eher. Deutschland hat ja noch zwei weitere Zipfel, einen im Westen, einen im Osten. Mal sehen, was so kommt.