1. und 2. Juni

1. Juni

Die Pause ist vorbei, es geht weiter, so schön es auch ist, die Verwandtschaft aus dem nicht ganz so hohen Norden zu sehen. Und auch wenn so ein Besuch selten geschieht, es fühlt sich immer ein wenig an wie "Heimkommen". Ich werde umsorgt, Wäsche wird gewaschen, Zelt und Schlafsack können wieder durchtrocknen. Habe ich alles eingepackt? Auf einem Campingplatz ist die Frage einfach zu beantworten: Alles, was rumliegt, wird mitgenommen. Ähnlich in Jugendherbergen oder Hotels. Bei Dachgebern wird es schon schwieriger. Aber natürlich ist immer alles mitgekommen.

Kaum bin ich ein paar hundert Meter gegangen, ruft Ulrike an: Ich habe meine Regenjacke vergessen ... Statt mich zu bitten, nochmal zurückzukommen, bietet sie mir an, die Jacke ans andere Ende des Ortes zu bringen; sie hat dort ohnehin zu tun. Im Supermarkt kaufe ich noch schnell ein, dann findet die Jackenübergabe statt. Nochmal vielen Dank, Uli!

In Wehrstedt kommt ein etwas seltsames Gefühl auf: Dort wohnte mein Patenonkel mit seiner Frau; beide sind längst gestorben. Dennoch bleibt ein schaler Geschmack. Zum Glück führt mich der Weg nicht direkt am Haus der beiden vorbei.

Unspektakulär, dennoch irgendwie schön ist der Weg nach Lammspringe, meinem Zwischenziel heute. Vor dem Ort geht es recht steil nach oben, die Zeit des Flachlands ist endgültig vorbei. In Lammspringe steuere ich - selbstverständlich - ein Café an und werde von einem netten Herren angesprochen. Er gibt mir denselben Tipp wie Ulrike: Nach Bad Gandersheim geht der "Skuplturenweg". Der ist nicht nur der Skulpturen wegen interessant, sondern auch, weil ihm entlang die "Bäume des Jahres" gepflanzt sind. Mit Beschriftung. Ich würde mich gerne mehr damit beschäftigen. Als ich jedoch lerne, dass die "Gemeine Fichte" auch Rottanne genannt wird und zur Familie der Kiefern gehört, steige ich aus. Wer denkt sich sowas aus? Und warum? Um Laien wie mich endgültig zu verwirren? Das jedenfalls hat funktioniert!

Auch noch interessant an dem Weg ist, dass er auf einem alten Bahndamm angelegt wurde. Wanderer, Radfahrer, Inline-Skater nutzen ihn jetzt. Und ich nutze nicht nur den Weg, sondern auch die Bäume, denn es schauert wieder einmal.

In Bad Gandersheim gönne ich mir erst einmal einen weiteren guten Cappuccino in einem recht stylischen Café. Gerade als ich aufbrechen will, tun dies die Wolken und es regnet heftig. Zum Glück nicht lang, und ich kann in mein heutiges Quartier einziehen, wo ich von Monika, einer Dachgeberin, willkommen geheißen werde. Monikas pragmatische Art ist mir sehr sympathisch. Wir reden eine ganze Weile, und als kurz vor 20 Uhr die Sonne rauskommt, beschließe ich, noch etwas für die nächsten Tage einzukaufen. Der Supermarkt ist nicht weit entfernt. Als ich mich von dort auf den "Heimweg" mache, sehe ich, dass wieder einmal ein Wettrennen mit dem Regen ansteht. Diesmal gewinne ich, denn es beginnt gerade heftig zu regnen, als ich wieder in meiner Unterkunft bin. Glück gehabt!

Wir unterhalten uns noch lange übers Wandern und Pilgern - Monika war unter anderem auf dem Jakobsweg in Spanien unterwegs. Außerdem hat sie dort in einer Herberge 2 Wochen lang geschuftet; es waren die arbeitsintensivsten Tage ihres Lebens.

 

2. Juni

Früh verabschiede ich mich von Monika - vielen Dank für Speis' und Trank, die nette Unterhaltung, die Übernachtungsmöglichkeit! - und mache mich auf in den trüben Tag. Ein zweites Frühstück gönne ich mir als ich eine einladende Bank mit Tisch am Waldrand entdecke. Ich genieße die Ruhe. Erst, als es mir dann doch zu kühl wird, breche ich wieder auf.

Meine Hose wird wieder einmal auf ihr Schnelltrockeneigenschaften hin getestet: Der Weg ist völlig zugewachsen, und das Gras vom Regen des Vortags noch komplett nass.

Heute bringe ich den sechshundertsten Kilometer hinter mich. Da kann mich auch das Schild nicht stoppen, das mich am Erklimmen eines Jägerhochstandes hindern will: Ich brauche eine weitere Pause. Die bekomme ich dort oben dann auch, selbst wenn die Ruhe flöten ist: Der Hochstand steht sehr nahe an der Autobahn A7. Auch bei deren Anblick kommen wieder nostalgische, schöne und traurige Gedanken in mir hoch. Nicht, dass ich gerne Auto fahre, aber die A7 bin ich so oft gefahren - mit den Eltern, mit Elke, alleine ... Ich breche wieder auf - und sehe mich sofort dem nächsten Schild gegenüber, das mich am Fortkommen hindern will. Diesmal ist es allerdings nicht nur ein Schild, ein ganzer Zaun soll mich davon abhalten, die Brücke über die A7 zu nehmen. Die Alternative ist ein Riesenumweg. Ohne mich. Ich schaue mich um: Geht es am Zaun vorbei? Darüber hinweg? Nein, Also: Zaun öffnen, durch die Öffnung durchgehen, Zaun schließen. Auf der anderen Seite das gleich Spiel, und schon habe ich den Umweg gespart. Ich bin sehr zufrieden damit. Im Übrigen heißt das Schild ja "Durchfahrt verboten". Ich fahre nicht ....

Ein weiteres Schild klärt mich bald danach darüber auf, dass ich auf der Via Scandinavica unterwegs bin, wieder ein Teil des Jakobswegs. Besser: Der Jakobswege, es gibt deren viele in Europa.

In Northeim wollte ich eigentlich zelten, entscheide mich dann des Wetters wegen für ein einfaches Hotel. Wieder einmal checke ich ohne Personal ein: Eine nicht gerade einfallsreiche Ziffernfolge öffnet die Haustür, eine weitere einen Schlüsselkasten. Um 16 Uhr habe ich das schmucklose Zimmer bezogen und überlege, was ich mit dem Rest des Tages anfange. 23 Kilometer liegen für heute hinter mir, morgen und übermorgen 2 kurze Etappen vor mir. Kurz entschlossen plane ich um. Jetzt ist des Lesers Mitdenken erforderlich:

Mein ursprünglicher Plan war bestimmt davon, dass ich für den 5. Juni ein Zugticket von Göttingen nach Hause habe. Die Rückfahrt nach Göttingen ist für den 11. Juni geplant. Darum habe ich Hotelübernachtungen in Göttingen vom 4. auf den 5. und vom 11. auf den 12. Juni gebucht. Also ist der Plan, in 2 Tagen von Northeim nach Göttingen zu wandern, mit Zwischenstopp in Nörten-Hardenberg (Achtung: Der Ortsname wir noch öfter auftauchen). 2 Etappen, die eigentlich zu kurz sind, aber zu lang für einen Tag. Ich ändere also meinen Plan wie folgt:

Noch heute, also einen Tag früher, wandere ich von Northeim nach Nörten-Hardenberg (da ist er wieder, der Ort mit dem Doppelnamen). Die Wanderapp sagt 15 Kilometer dafür voraus, wenn ich Wanderwegen folge. Stattdessen gehe ich entlang der Bundesstrasse und reduziere die Strecke auf 11 Kilometer. Das Gepäck bleibt im Hotel, die Wanderstiefel werden durch die Joggingschuhe ersetzt, und los geht's. In Nörten-Hardenberg (!) nehme ich den Zug zurück nach Northeim. Etwas frustrierend, wie schnell das geht und wie lange ich zu Fuß brauche, ist das schon: Statt etwas über 2 Stunden bin ich in 7 Minuten zurück.

Morgen bringt mich der Zug wieder zurück nach Nörten-Hardenberg (aha!), von wo aus ich nach Landolfshausen laufen will. Zurück nach Nörten-Hardenberg (!) geht es mit dem Bus. Und übermorgen, am 4. Juni, bringt mich eben dieser Bus dann von Nörten-Hardenberg (uff) wieder nach Landolfshausen. Die Tagesetappe wird in Heilbad Heiligenstadt enden, der Zug mich nach Göttingen bringen, und am 5. Juni kann ich planmäßig nach Hause fahren.

Klingt alles ein wenig nach Loriot-Sketch, ich habe allerdings leider weder die Cousinen Priscilla und Gwyneth Molesworth getroffen, noch Lord und Lady Hesketh-Fortescue oder Lord Molesworth-Houghton. Aber am Ende des Tages bin ich wieder einmal mehr als 30 Kilometer unterwegs gewesen - und geschafft.

 


3. und 4. Juni

3. Juni

Von Nörten-Hardenberg geht es heute also nach Landolfshausen. Es ist eine sehr schöne Wanderung, die mich allerdings fordert, weil sie stellenweise ziemlich steil bergauf führt. Zwar sind es am Ende "nur" gut 400 Höhenmeter aufwärts, aber die Wanderapp zeigt mehrere orange eingefärbte Anstiege und sogar einen roten. Den bewältige ich zum Teil auf allen Vieren. Naja, beinahe.

Auf der Karte sehe ich eine Versuchung: Die Burg Pless - oder die Plessburg? Das geht anscheinend beides - liegt nicht allzu weit entfernt. Ich entscheide mich trotzdem dagegen: Zu weit, zu steil, zu viel bergan - doch finde ich mich plötzlich eben dort oben auf der Burg wieder. Ein herrlicher Blick über das Leinetal belohnt mich, und ich belohne mich mit einem zweiten Frühstück. 

Danach tue ich noch etwas für meine Bildung. Der "Weg der Menschenrechte" ist jetzt mein Wanderpfad. Alle paar hundert Meter finde ich eine Tafel mit jeweils zwei Menschenrechten, 15 Tafeln insgesamt. So wird politische Bildung mit Naturerlebnis verbunden.

In Landolfshausen habe ich Glück: Der nächste Bus lässt nicht lange auf sich warten. Er bringt mich in etwa einer halben Stunde nach Göttingen, wo ich, natürlich, ein Café suche, bevor ich mich nach - Achtung! - Nörten-Hardenberg aufmache. Ich finde das Café Hoffnung, ein non-profit Café. "Non-profit" finde ich ein wenig irreführend, denn das Café macht selbstverständlich Gewinn. Der allerdings fließt nicht in private Hände, sondern geht zu 100% in das Engagement in Krisengebieten und Brennpunkten. Und zwar nicht irgendwo, sondern vor Ort in Göttingen.

Dann bringt mich ein Zug zurück nach - ratet mal ... genau! - Nörten-Hardenberg. Den Kilometer vom Bahnhof zum Hotel bringe ich schnell hinter mich. Auf dem Weg entdecke ich arme, eingegrabene Smileys.

Das Hotel ist ziemlich interessant. Die Zimmer sind topmodern eingerichtet, mit großem Kühlschrank, Herd und Spülbecken sowie einer Regendusche. Aber es gibt kein Personal, alles läuft über Mailverkehr. Bis 22 Uhr gibt es notfalls telefonische Unterstützung. Der Clou ist, dass ich selbst die Tür öffnet wie das berühmte Sesam. Ich bekomme einen Link zugeschickt: " Zimmer 106 öffnen." Als ich da drauf klicke, passiert genau das, die Zimmertür öffnet sich. Spannend.

 

4. Juni

Ich wache auf in Nörten-Hardenberg und fahre mit Zug und Bus nach Ludolfshausen. Viel passiert heute nicht. Als ich eine Pause mache, sehr nett an einem kleinen Weiher in einem kleinen Ort, stelle ich anhand der Autokennzeichen zwei Dinge fest: Wieder einmal bin ich in einem neuen Landkreis, und ich bin auf einmal in Thüringen. Wenn ich Bremen mitzähle, ist das also mein viertes Bundesland. Nach Thüringen wird nur noch Bayern kommen. Ich finde das erstaunlich, da ich doch bald die halbe Republik durchwandert habe. Die zweite Hälfte wird also fast nur Bayern sein.

Zunächst aber steht Heilbad Heiligenstadt auf dem Plan. Das ist ein sehr netter Ort mit altem Gemäuer und langer Geschichte, einigen Kirchen, Museen und Denkmälern. Mich bringt der Zug zurück nach Göttingen. Nach dem Einchecken im Hotel gerate ich auf der Suche nach einem Restaurant zum Abendessen nach Amerika: Ein waschechtes Blockhaus beherbergt eine Burger- und Steakbude inklusive der Möglichkeit zum Bullriding. Ich bin in einer anderen Welt.


5. bis 11. Juni

Heimaturlaub

Familie, Freunde, Geburtstagsfeier, Wäsche waschen, Briefverkehr, Rasieren, Kartondruck, eigenes Bett, richtige Kleidung, Frühstück, eigenes Bad, Musik, ...


11. und 12. Juni

11. Juni

Selbst von einer Zugfahrt gibt es Erstaunliches zu berichten. Ich finde einen Sitzplatz, und irgendwann treibt mich der Appetit ins Bordrestaurant. Meine beiden Jacken lasse ich hängen, Rucksack und Hut bleiben über meinem Platz in der Gepäckablage. Als ich bezahlen will, merke ich, dass ich mein Portemonnaie in einer der Jacken gelassen habe. Ich eile an meinem Platz, um zwei Dinge festzustellen: Erstens ist der Platz besetzt, zweitens fehlen die Jacken. Und, ja, ich bin am richtigen Platz, der Rucksack liegt da, wo er hingehört. So ein Mist.

Ich frage den Fahrgast, der auf meinem Platz sitzt, wo denn die Jacken sind. Keine Antwort. Ich frage etwas lauter. Keine Antwort. Ich beuge mich zu ihm herunter, schaue ihm in die Augen und Frage erneut. Die Antwort ist ein Achselzucken. Das kann doch nicht wahr sein! Da steht ein anderer Fahrgast auf und zeigt mir meine Jacken, die an ganz anderer Stelle in der Gepäckablage liegen. Gott sei Dank. Und wieder ein anderer Mitreisender bietet mir den Platz neben seinem an, den ich, nachdem ich im Bordrestaurant bezahlt habe, gerne annehme. Die Jacken lege ich zu meinem Rucksack. Dabei verdecke ich meinen Strohhut, den ich beim Aussteigen prompt übersehe. So laufe ich jetzt also unbehütet und vorläufig bartlos durch die Lande. Naja, das mit dem Bart wird sich von Tag zu Tag allmählich ändern.

 

12. Juni

Heute schleppe ich mich die knapp 24 Kilometer. Es geht nur sehr langsam voran. Ich hoffe, dass das nur am schlechten Schlaf liegt. Meine Motivation ist allerdings wohl auch noch auf Urlaub. Wenn ich mehrere solche Tage haben sollte, wird sich der Gedanke an einen Abbruch sicher breiter machen.

Ich erreiche schlurfend mehr als wandernd meinen ersten Mittelpunkt Deutschlands und mache Pause, genieße das Wetter freue mich an der Aussicht.

Danach geht es wieder einmal durch die Wildnis, teilweise ist der Weg so zugewachsen, dass ich ihn kaum erkenne. Etwas schwierig dabei ist, dass überall auch Äste herumliegen und damit die Gefahr, dass ich unglücklich auftrete und mich verletze, deutlich steigt. Aber es geht alles gut.

In einem Waldabschnitt höre ich eine Rotte Menschen, sehe kurz darauf allerdings nur eine Frau mit Rucksack. Die ist ganz aufgeregt, sie hat doch das Essen für die Gruppe bestellt, und jetzt hat sie den Anschluss verloren. Pech für die Gruppe, wenn Sie die wichtigste Person verliert ... Ich zeige ihr, wo ich die Rotte gehört habe und hoffe, dass sie sich wiederfinden.

Heute bin ich wieder Gast als 1nitetenter. Das Beste dabei ist dass ich mein Zelt nicht aufzubauen brauche, denn ich kann im Gartenhaus von Fabian und Katharina schlafen. Fabian versorgt mich noch mit Brot, Getränken und Süßigkeiten - herrlich! Vielen Dank euch beiden!

 


13. und 14. Juni

13. Juni

Na also, geht doch: Heute läuft es deutlich besser, das merke ich bereits beim ersten Schritt aus dem Garten von Katharina und Fabian. Am Ende des Tages werde ich mich noch immer fit fühlen. Wunderschöne Wege belohnen und motivieren mich heute. Tolle Aussichten, bestes Wetter, dichte Wälder und Wegweiser ohne Ende. Jeder Wanderer wird hart ausgebremst, wenn er die alle lesen will. Und just als ich Lust habe auf eine Pause stehe ich unvermittelt vor einem Kiosk, bei dem ich ein leckeres Kesselgulasch essen. 

Weiter geht es voller Schwung, das Ziel ist Niederdorla - der zweite Mittelpunkt Deutschlands. Und, wie mir die Dame in der Schlange beim Bäcker bestätigt, ist er auch der einzig richtige. Wie könnte ich das je bezweifeln?!? Er stellt sich heraus, dass die Dame nicht alleine ist, es sind deren fünf, sie sind neugierig und bitten mich an ihren Tisch. Alle fünf wandern gerne und sind zum Teil auch schon den portugiesischen Jakobsweg gepilgert. Es wird ein lustiger Kaffeeklatsch, wir lachen viel, die Damen bekommen Abwechslung und ich nette Unterhaltung.

Einen Kilometer später stehe ich an dem Fels, der den Mittelpunkt markiert - ein weiterer Höhepunkt meiner Tour.

Ein Selfie und ein paar andere Fotos später mache ich mich auf in den Ort Niederdorla. Von Anette, einer liebe Freundin, habe ich kurz vor meinem Aufbruch zum Geburtstag einen Gutschein für den "Dorfkrug" hier bekommen. Geöffnet hat der ab 17 Uhr, Zeit habe ich also noch. Die verbringe ich abwechselnd telefonierend und schreibend in der Sonne auf einer Bank. Viertel nach fünf gehe ich zum Dorfkrug; es ist geschlossen. Nanu ... Ich gehe um das Haus herum, Licht und Musik sind eingeschaltet. Der Hintereingang ist nicht verschlossen und ich trete ein. Als ich etwas unschlüssig dastehe, ruft mir eine Stimme zu: "Einfach weitergehen in den Gastraum." Die Stimme gehört zu Mario, dem Chef des Hauses. Er begrüßt mich wie einen alten Bekannten, wir sind gleich per Du. Selbstverständlich erinnert er sich an Anette, die den Gutschein bei ihm selbst bestellt hat. Mario stellt den Herd an, und bald habe ich einen tollen Burger mit Pommes auf dem Tisch. Der Lavakuchen als Nachtisch füllt mich dann fast bis zum Platzen. Lecker! 

Zwischendurch kommen zwei Mädchen völlig selbstverständlich in den Schankraum. Die beiden vielleicht acht Jahre alten Mädels stellen empört fest, dass das Stammtisch-Schild fehlt. In dem Alter sind sie schon Stammtischkameraden? Oha! Dann fragt mich eines der Mädchen, warum ich so früh schon hier wäre. "Weil ich Hunger habe", lautet meine Antwort. "Und ihr?" "Weil Jugendfeuerwehr ausgefallen ist." "Warum das denn?" "Tobi (der richtige Name ist von der Redaktion vergessen) ist alleine. Und das packt er nicht." Aha!

Später kommen noch weitere Feuerwehrmänner und -Frauen dazu; sie setzen sich alle in den Biergarten, und ich bin wieder allein.

Mario und ich machen noch ein gemeinsames Foto für Anette, dann gehe ich die letzten zweieinhalb Kilometer für heute an. Ziel ist das Palumpaland, ein wirklich schöner Zeltplatz an einem Stausee. Sehr ruhig, sehr entspannend. Die Nacht soll kalt werden, und ich kuschele mich tief in meinen Schlafsack.

 

14. Juni

Als ich gerade dabei bin, das Zelt abzubauen, fängt es zu regnen an. Na toll ... 

Frühstück gibt es nach einer Stunde wandern in der Dorfbäckerei von Langula. Der Kaffee wird frisch für mich aufgebrüht, und während die Verkäuferin dazu verschwindet, spricht mich eine Frau an, die ich auf etwa Anfang 70 schätze. Sie heißt Gerda und fragt nach meiner Wanderung. Ich erzähle ihr dass ich auf Sylt gestartet bin und bis Oberstdorf wandern will. Sie schließt die Augen, fasst sich an den Kopf, und ist sprachlos. Aber nur kurz, dann unterhalten wir uns munter. Gerda ist im Wanderverein aktiv und trifft sich jede Woche mit ihren Wanderkollegen. Um die 15 km legen Sie dann jedes Mal zurück. Mein Respekt steigt, als ich erfahre, dass sie bereits 82 Jahre alt ist!

Hinter Langula geht es durch Felder und später durch einen Wald bergauf. Mal ist mir zu warm, ich schwitze und ziehe die Jacken aus. Dann verschwindet die Sonne, dafür wird es windiger, und ich ziehe die Jacken wieder an. Zu warm, Jacke aus. Zu kalt ... Das Wetter hat seinen Spaß mit mir.

Die Navi App sagt, ich solle links auf einen Weg abbiegen. Nur ist der von einem Zaun versperrt. Diesmal geht es weder daran vorbei, noch darüber hinweg. Und auch hindurch klappt nicht. Also suche ich einen alternativen Weg mit Hilfe der App. Toll, das bedeutet 3 Kilometer Umweg. Zum Glück sind heute nur 18 Kilometer geplant, das passt gerade noch.

Irgendwann wird der Weg zum Pfad, und der Pfad wird zum Schlammbad. Bei dem Versuch mich am Rand des Schlamms vorbeizudrängen, rutsche ich prompt aus, und falle fast der Länge nach ins schönste Schlammloch der Gegend. Zum Glück nur fast.

Ein wenig später haben meine App und das GPS-Signal offensichtlich einen kleinen Disput. Die App sagt "jetzt rechts abbiegen". GPS und Realität sagen: Da ist kein Weg. Ein paar Meter vorher einen Weg zu akzeptieren weigert sich die App, der Weg ein paar Meter weiter wird von ihr komplett ignoriert und nicht angezeigt. Und noch ein Stück weiter ist ebenfalls ein Weg, der aber laut App völlig in die falsche Richtung führt. Also schlichte ich den Streit und wähle salomonisch einen Weg, denn es laut App und GPS nicht gibt. Ich verfolge auf dem Smartphone den blauen Punkt, der meinen Standort bezeichnen soll, so lange, bis "mein" Weg aufhört. Was nun? Zurück ist nicht, aufgeben keine Option. Links von mir soll in ein paar hundert Metern ein Weg sein, und ich entscheide mich, den zu suchen. Das heißt: Es geht mitten durch den recht dichten Wald. Mehr als einmal strauchle ich und lache über mich. Verrückter Kerl! Dann stoße ich auf den Weg und marschiere mit den schmutzigsten Stiefeln fröhlich nach Mihla. Dort gibt es für mich einen Cappuccino, ein Stück Kuchen und ein fröhliches Lächeln einer Kundin. Was könnte da noch fehlen?

Als ich im Hotel ankomme, steht eben diese Kundin am Grill. Von Weitem sah es so aus als brenne das Hotel, es ist zum Glück der Rauch der Holzkohle. Jetzt weiß ich auch was heute noch gefehlt hat: Ein angenehmes Gespräch und eine Thüringer Bratwurst. 

Beim Abendessen lerne ich noch einen Genussradler kennen, und wir tauschen uns über unsere Projekte aus. Es wird ein netter Abend.

Ach ja: Selbstverständlich ist mein Zimmer ein wenig neu dekoriert. Das Zelt und dessen Unterlage wollen trocknen.

 

Übrigens: Schaut gerne auch mal in die Randnotizen.


15. bis 19. Juni

15. Juni

Der Tag beginnt trüb und mit einem steilen Anstieg. Heute mache ich meinen siebenhundertsten Kilometer voll und erreiche Eisenach. Die Stadt und die Wartburg habe ich schon mit Elke besucht, damals, in meinem früheren Leben. Wenigstens bessert sich das Wetter deutlich, und ich komme bei schönstem Sonnenschein an. Viel zu erzählen gibt es heute nicht mehr, außer dass ich, manche mögen mich verrückt nennen, kurz nach Hause fahre, um einen Vertrag zu unterschreiben. So eine schnelle Stippvisite fühlt sich recht seltsam an, denn in Fußmärschen und Tagesetappen gerechnet bin ich so weit von zu Hause weg, während es mit dem Zug ruckzuck geht.

 

16 Juni

Daher wird es heute ein kurzer Wandertag, fast schon ein Ruhetag. Nicht weit hinter Eisenach hält mich allerdings erst einmal das Burschenschaftsdenkmal auf. Schon von dessen Fuß aus hat man einen tollen Blick auf Eisenach, vom 33 Meter hohen Bau ist die Aussicht sicher spektakulär. Nicht für mich, für "Ausflüge" nehme ich mir auf meiner Tour keine Zeit. Für den schönen Weg durch den Wald dann schon.

Tagesziel ist heute Ruhla. Viel zu sagen gibt es über den Ort nicht, außer, dass dort neben einem Uhrenmuseum auch noch eine Uhrenfabrik ansässig ist. Und dase es überall steil bergauf geht, wie ich morgen leidvoll erfahren werde.

Der Abend vergeht, wie so viele, mit essen, planen, Statusupdates.

 

17. Juni

Von Ruhla aus geht es, natürlich, steil bergauf, immerhin auf gut 800 Meter Höhe. In 660 Metern Höhe traue ich zuerst meinen Augen nicht: Da steht ein Zaun aus alten und ganz alten Ski! Und dieser Zaun umgibt doch glatt eine Skihütte. Schade, dass gerade geschlossen ist, die Gaudi hätte ich mir gegönnt.

Ein paar hundert Meter weiter beginnt der Rennsteig. Naja, "beginnt" ist sicher nicht ganz richtig. Besser: Ich beginne, ihn zu erwandern. Ein kleines Stück des insgesamt 170 Kilometer langen bekannten Wanderwegs werde ich für mich erobern. Und dann sehe ich noch etwas, das mich einmal mehr an die Alpen denken lässt: Eine Skisprungschanze! Und zwar die Inselbergschanze Brotterode. Nie gehört? Na sowas ... Und wieder schließen wir gemeinsam eine Bildungslücke.

Der Wald wartet heute mit jeder Menge Fingerhut auf. Helle, dunkle, einzeln stehende und ganze Großfamilien zieren meinen Weg. Außer dem Fingerhut begleitet mich Bombenwetter nach Schmalkalden. 

Ich bin jetzt übrigens sowohl auf dem Jakobusweg als auch auf dem Lutherweg unterwegs. Katholiken und Protestanten pilgern hier offensichtlich in trauter Zweisamkeit. Ökumenische Walz, sozusagen.

Schmalkalden überrascht mich. Zum einen mit der Stadtkirche St. Georg, zum anderen mit den vielen malerischen Fachwerkhäusern. Und zum dritten mit der Menschenleere. Es ist sonnig, warm, ein schöner Abend - und trotzdem ist die Fußgängerzone leer.

 

18. Juni

Wenn ich schon in Ruhla dachte, es geht steil bergauf, so weiß ich heute, dass das nur eine kleine Übung war. Heute nämlich wuchte ich mich von 320 Metern auf knapp 600 m Höhe. Und das auf einer Strecke von weniger als 6 Kilometern. Und nach 2 Kilometer bin ich schon auf 500 Meter Höhe! Die Strecke trainiert mich für die Alpen, und ich bekomme immer größeren Respekt vor den richtigen Bergen.

Die Wandertage werden immer ähnlicher: Es gibt Felder, Wälder und Wetter. Hier und da mache ich eine Pause, entweder mit Schläfchen oder mit Kaffee. Und immer wieder gibt es dann doch etwas Überraschendes. Heute sind es reife Heidelbeeren, die mich verblüffen. Sind die nicht erst im Juli oder August fällig? 

Kurz vor meinem Tagesziel, Meiningen, mache ich noch ein Nickerchen. Es ist herrlich, bei Sonnenschein im Gras zu dösen. Eine halbe Stunde später wache ich auf, und der Himmel ist komplett zugezogen. Ich breche auf, und schon treffen mich die ersten Regentropfen. Zum Glück sprüht es nur ein wenig zu dem Donnergrollen, ich werde nicht richtig nass. Fast scheint es, als würde das Gewitter vor mir flüchten. Gut so, Thor, schleich' Dich!

Jedenfalls erreiche ich Meiningen in bester Laune. Und auch Meiningen ist eine sehenswerte Stadt mit großer Kirche, vielen alten Häuser, darunter auch große Villen, und Menschen! Echten, bummelnden, genießenden, sich unterhaltenden Menschen. Ich esse etwas und mache mich dann auf zum Zeltplatz oberhalb der Stadt. Es geht selbstverständlich noch einmal steil bergauf, und ich freue mich immer mehr auf die Dusche. Das Zelt ist schnell aufgebaut, und ich falle schon um 21 Uhr in den Schlaf. Wer mich kennt, kennt mich jetzt nicht mehr. Und das schließt mich selber mit ein.

 

19. Juni

Mieser Tag, mieser Tag, mieser Tag. Ich habe es schon am Abend vorher befürchtet und daher meine Wanderschuhe mit ins Zelt genommen (sonst mache ich es wie zu Hause, die Schuhe werden draußen hingestellt): Die Nacktschnecken (nein, nicht Micaela Schäfer) haben mein Zelt erobert. Na, nicht ganz, denn ins Innenzelt haben sie es nicht geschafft. Aber mein Zelt hat noch drei weitere Seiten: Außenseite Außenzelt, Innenseite Außenzelt, Außenseite Innenzelt. Schätzungsweise 30 Tiere entferne ich von diesen drei Seiten, bevor ich das Zelt abbaue und hoffe, dass ich keine Schnecke übersehen habe. Die wäre jetzt wohl zerquetscht im Rucksack. Uäää. Zu Hause werde ich das Zelt in die Waschmaschine stecken. Bei 120 Grad oder so. Mieser Tag.

Beim Abmelden knüpft mir der Kassierer weitere 4,50 € ab. Gestern habe ich 8 Euro bezahlt, ein weiterer wäre heute fällig. 9 € wäre dann der Tarif für ein Zelt und eine Person. "Ja, aber die Nebenkosten wie Dusche und so ...". Mieser Tag.

Wenigstens die Sonne scheint.

Noch. Es dauert nicht lange, und es fängt an zu regnen. Mieser Tag. 

Zum Glück regnet es nicht lange, aber im Gras dösen ist heute keine gute Idee. Und ein Café finde ich heute erstmal auch nicht. Mieser Tag.

Ich komme aus einem Waldstück heraus und finde, dass es hier irgendwie seltsam aussieht: Linker Hand ein Waldstück, rechts ein Waldstück, und dazwischen kahl, als wäre jemand mit einer riesen Sense durch die Landschaft gegangen und hätte aus dem Wald eine Schneise herausgeschlagen. Ich schaue auf die App und sehe, dass mein Gefühl ganz richtig war. Ich stehe an der Grenze zwischen Thüringen und Bayern, also dort, wo auch zwischen der ehemaligen DDR und der BRD die Grenze verlief. Ich folge dem Weg und stehe in einem Skulpturengarten, den wohl ein einziger Künstler geschaffen hat. Ich bin sehr beeindruckt und schaue mich um, bis es wieder regnet. Dann suche ich Schutz unter den Bäumen. Es hört zum Glück schnell auf, und ich gehe weiter direkt durch die wuchtigen Grenzanlagen. Auch wenn die Wiedervereinigung 35 Jahre her ist, kann ich einen mulmiges Gefühl nicht unterdrücken.

Ich brauche eine Pause. In einem überdachten Lagerplatz für Holz kann ich es mir einigermaßen gemütlich machen. Zum Glück sitze ich jetzt hier, denn es fängt wieder an zu regnen, diesmal richtig. Ich esse etwas, trinke, warte. Und ich weiß immer noch nicht, wo ich heute schlafen werde. Jetzt hätte ich Zeit zu telefonieren, aber kein Netz. Mir wird kalt, denn ich habe mich heute Morgen der Sonne wegen für kurze Hose und kurze Ärmel entschieden.

Mieser Tag.

Irgendwann hört es auf zu regnen und ich kann weiterlaufen und bald auch telefonieren. Keiner nimmt ab, obwohl ich es mehrmals probiere. Ich versuche es weiter und habe auch bald einen Schlafplatz. Jetzt fehlt nur noch ein Café. Das Museumscafé in Mellrichstadt klingt gut, hat aber geschlossen, stelle ich fest, als ich davor stehe. Wegen eines Brandschadens. Ein paar Schritte weiter finde ich ein anderes, sehr nettes Café mit angeschlossenem Ladengeschäft, in dem es Leckeres zu essen und trinken sowie Dekoartikel zu kaufen gibt. Ich werde eingeladen, an einem Tisch Platz zu nehmen, neben dem sich eine junge Frau und ein älterer Herr unterhalten. Beide wirken sehr sympathisch. Es dauert nicht lange, und er spricht mich auf meinen Wanderrucksack an. Wir unterhalten uns eine ganze Weile lang. Bis der letzte Regen des Tages vorbei ist, tauschen wir uns über die Reise der Frau aus - 5 Monate Feuerland und Patagonien, zu Fuß, auf dem Pferd, auch mit anderen Fortbewegungsmitteln -, über meine Reise und die Fahrten des Mannes. Es wird ein sehr netter Nachmittag und ich bedaure, dass manche Begegnungen so flüchtig bleiben.

Danach gehe ich noch lecker essen, finde meine Unterkunft und sehe jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, dass der Himmel abgeräumt ist.

Toller Tag :-) !

 


20. bis 22. Juni

20. und 21. Juni

Der Tag begrüßt mich mit Sonnenschein, der Hofhund verabschiedet mich mit heiserem Gebell. Heute fallen mir die ersten Schritte wieder einmal recht schwer. Das liegt sicher auch daran, dass ich noch keine Unterkunft für heute Nacht habe. In Münnerstadt hatte ich mir den Zeltplatz ausgesucht und ihn vorsichtshalber per Mail kontaktiert. Die Antwort klingt für mich etwas skurril. Zwar ist der Platz frei, er kostet aber 120 € pro Nacht; ich hätte den Platz für mich alleine. Stattdessen frage ich noch mal nach, ob es nicht eine andere Möglichkeit gäbe. Gibt es nicht. Es handelt sich um einen Jugendzeltplatz, nicht um einen Campingplatz. Aha! Ich wollte dir eigentlich auch Zelten. Na gut.

Von einem Dachgeber bekomme ich keine Antwort. Ich weiß also, wie gesagt, nicht, wo ich heute Nacht mein Haupt betten werde. Das drückt auf die Stimmung, und die Füße werden schwerer. Dann mache ich doch erstmal eine Pause. Rucksack runter, rauf aufs Gras und Augen zu. Dann durchzuckt mein Hirn ein Blitz und ich prüfe die Idee. Es wird zwar wieder ein Hin und Her mit Bus und Bahn, wird aber funktionieren. Und zwar folgendermaßen: Ich laufe - deutlich beschwingter wegen der Idee - nach Bad Neustadt. Das ist quasi um die Ecke, es sind gerade einmal 15 Kilometer. Von dort bringt mich der Zug nach Schweinfurt, wo ich den Bus zum dortigen Zeltplatz nehme. Das Zelt ist mittlerweile zügig aufgebaut, dann bringen mich Bus und Bahn wieder nach Bad Neustadt. Jetzt habe ich deutlich leichteres Gepäck, und die restlichen 13 Kilometer nach Münnerstadt liegen bald hinter mir. Dann wieder Zug, Bus, Campingplatz, und morgen retour: Bus, Zug, Münnerstadt, von wo aus es zu Fuß nach Schweinfurt geht.

Interessanter wird der Tag durch zwei Persönlichkeiten. Zum einen ist da die Dame, bei der ich mich am Campingplatz anmelde. Sie ist eigentlich ganz freundlich und bietet mir sogar an, dass ich mich am Kirschbaum bedienen darf. Gleichzeitig schimpft sie über die "Neuen Camper", die seit Corona unterwegs sind. Und über Wohnmobilfahrer, die sich nicht anmelden. Und über Wohnmobilfahrer, die nur eine Nacht bleiben wollen. Und über Wohnmobilfahrer im Allgemeinen. Der Campingplatz ist mit Verboten gut bestückt, verbunden mit der Bitte, diejenigen zu melden, die gegen Verbote verstoßen. Wenigstens sind die Sanitäranlagen richtig gut, die besten, die mir bisher untergekommen sind.

Zum zweiten ist das der Schaffner auf dem Zug zurück nach Bad Neustadt. Er steht schon am Bahnsteig. Eine Lautsprechermeldung verkündet, dass der Zug geteilt wird - ein Teil fährt nach Bad Kissingen, ein Teil nach Erfurt. Ich frage den Schaffner in welchen Teil ich einsteigen soll wenn ich nach Bad Neustadt möchte. Er ist super freundlich und lustig aufgelegt und erklärt mir woher der Zug kommt, wo Bad Kissingen ist und ein paar andere Dinge. Wo ich einsteigen soll, erfahre ich von einem Mitreisenden. Erst die Durchsage im Zug bestätigt mir, dass ich im richtigen Zugteil sitze.

Da ich besonders clever bin, nutze ich ein Schließfach für das Zelt, den Schlafsack, die Isomatte und einiges andere. Nur Jacken, Wasser und Lebensmittel kommen mit. Am Abend fahre ich in Schweinfurt erst ins Hotel, packe alles aus dem Rucksack aus und fahre dann mit dem leeren Rucksack zurück zum Bahnhof. Da ich besonders clever bin, fällt mir schon beim Aussteigen aus dem Bus auf, dass ich alles aus dem Rucksack genommen habe, also auch das kleine Plastikkästchen, in dem ich den Schließfachschlüssel aufbewahrt habe, und das jetzt auf dem Schreibtisch meines Hotelzimmer liegt. Also fahre ich gleich zurück ins Hotel, hole den Schlüssel und fahre mit dem nächsten Bus zurück zum Bahnhof. Schon beim Einsteigen in den Bus sehe ich die dunklen Wolken. Ich habe gerade alles in den Rucksack gepackt, da fängt es an zu donnern und zu regnen. Da ich besonders clever bin, werde ich ziemlich nass. Im Hotel dusche ich erst einmal mich, dann alles, was zum Zelt gehört. Meine Kleidung kommt zusammen mit einer Portion Duschbad ins heiße Wasser im Waschbecken. Ich esse zu Abend - zwei Brötchen mit Fisch aus der Dose und eine Tafel Schokolade - dann falle ich ins Bett, kann aber erst nach Mitternacht einschlafen. Egal, morgen ist Pausentag.

 

22. Juni

Ich revidiere die Meinung, die ich mir gestern über Schweinfurt gebildet habe. Sie war geprägt vom Bild, das Bahnhof und ZOB mir gezeigt haben. Schweinfurt hat aber deutlich mehr zu bieten: Einen schönen Marktplatz mit sehenswertem Rathaus, nette Gassen, den Main - auch wenn man aus dessen Nähe mehr hätte machen können - und zwei gute Museen. Eines davon war früher ein Schwimmbad, und das besuche ich sogar.

Der Tag vergeht erholsam.


23. bis 25. Juni

23. Juni

Eigentlich will ich heute noch etwas einkaufen, ich brauche Milch für mein Müsli. An einem Supermarkt komme ich am Morgen noch vorbei. Das Hotel bietet zwar ein tolles Frühstücksbuffet, das einmal zu genießen reicht mir allerdings. Und das war gestern. Eigentlich will ich das Müsli noch im Hotelzimmer essen. Eigentlich habe ich alles dafür da: Müsli, H-Milch, Apfel, Banane. Und eigentlich sollte die Milch noch gut sein. Aber sie will so gar nicht aus der Tüte tropfen. Der Geruchstest beweist, dass die Milch hinüber ist. Also bleibt es zunächst bei Banane und Apfel, und ich plane, Milch einzukaufen und das Müsli unterwegs zu verspeisen. Eigentlich ist es ein guter Plan B. Nur, das heute Sonntag ist und daher der Supermarkt geschlossen, will nicht zurecht zu dem Plan passen. Also wird ein neuer Plan gebastelt, Plan C wie Café. Es wird dann ein Bäcker, der gerade von einer Kundenwelle überrollt wird. Ich bestelle ein kleines Frühstück, und weil es keine Milch gibt, kaufe ich noch einen fertigen Kakao dazu. Das geht auch sehr gut, und so kann ich ein paar Stunden später am Wegesrand mal Müsli, na ja, "genießen" ist ein großes Wort ...

Hätte ich noch Zweifel daran gehabt, im Süden zu sein, wären sie spätestens heute ausgeräumt worden. Ich laufe durch Weinberge am Main entlang. Eine sehr schöne Abwechslung. Es gibt allerdings einen großen Nachteil beim Wandern durch Weinberge, so schön es auch ist. Was für den Wein ausgezeichnet ist, ist für den Wanderer anstrengend: Die Südhanglage. Bei praller Sonne geht es heute auf und ab durch die mainfränkischen Reben. Alles ist sehr malerisch und gleichzeitig schweißtreibend. Abwechslung bringt die Mainfähre bei Obereisenheim, der Heimatgemeinde des deutschen Silvaners. Und hier ist noch ein Stück neu erworbenen Wissens, mit dem sich vorzüglich prahlen lässt: Die Mainfähren zählen zum immateriellen UNESCO-Welterbe.

Bald erreiche ich Volkach. Mit 17, 50 € plus Duschgebühren plus Gebühren für das WLAN ist der Ankergrund der bisher teuerste Campingplatz. Aber er ist super sauber. Nach meinem Abendessen - Brot, Dosenfisch - erobere ich das nette Städtchen Volkach. Der halbtrockene Rosé, den ich während des Schreibens trinke, ist ausgezeichnet. Und ich werde heute sicher sehr gut schlafen.

 

24. Juni

Das Frühstück - ratet mal ... ja, genau, es gibt wieder einmal Müsli - serviere ich mir erst 5 Kilometer nach dem Aufbruch von Campingplatz. Oder ist es ein Zeltplatz? Ich bin mittlerweile verwirrt ... Jedenfalls finde ich eine wunderschöne Laube mit fantastischem Ausblick, und ich bleibe länger als beabsichtigt.

Den Tiefpunkt erlebe ich in einem Restaurant. Ich bestelle eine Belohnungs-Cappucino, den ich aber stehen lasse, so schlecht schmeckt er.

Den Höhepunkt des Tages markiert nicht der lange Marsch unter der heißen Sonne. Auch Fähre Nummer 4 ist es nicht. Der eindeutige Höhepunkt heute ist der Campingplatz in Kitzingen, der "Schiefe Turm". Besser gesagt dessen Sanitäranlagen. Man kommt sich vor wie im Schloss von Graf Protz: Thronsessel in der Empfangshalle, goldene Wasserhähne, goldene Löwenkopfreliefs in den Duschen. Ich weiß gar nicht so recht, ob ich beeindruckt oder abgeschreckt sein soll.

Das Abendessen direkt am Main besteht Häuser aus einem Salat und einem Weißweinschorle. Aber ein richtiges Schorle: Ein satter halber Liter Schorle wird serviert. Ich bin im Weinland!

Bloggen, duschen, Bett. Ich schlafe schnell ein, werde aber bald durch eine Explosion geweckt. Wenigstens hört es sich so an. Es folgen noch einige weitere, und am nächsten Morgen erfahre ich, dass das Ende des Weinfestes mit einem Feuerwerk gefeiert wurde.

 

25. Juni

Ich habe am letzten Samstag einen Dachgeber etwas kalt erwischt, denn er war nicht zu Hause und dachte ich will spontan übernachten. Für heute, Dienstag, sollte es seiner Aussage nach klappen. Allerdings bekomme ich weder auf meine E-Mail noch auf eine SMS eine Antwort. So bin ich wieder einmal nicht sicher, ob es heute mit der Unterkunft klappt, und laufe einfach mal drauf los.

Der Marsch durchs Land fängt mit einer Unterführung an, die geschätzte 1, 50 Meter hoch ist. Mit dem Rucksack auf dem Rücken ist das eine sportliche Angelegenheit.

In Marktbreit - das ist keine Längeneinheit, sondern der Name eines netten schnuckeligen Ortes - gibt es einen leckeren Cappuccino von einer verschnupften Bäckerin. Sie ist tatsächlich verschnupft, also erkältet, und total nett. Frisch ausgeruht schreite ich wieder durch die Felder, bei ziemlich heißer Sonne und ohne Schatten.

Verschwitzt erreiche ich das Haus von Elsbeth und Werner, meinen Dachgebern von heute. Sie stellen sich als ausgesprochen nett, völlig unkompliziert und richtig cool heraus. Wir erzählen von unseren Touren und ich lerne, dass sie mehrmals in den USA per Fahrrad unterwegs waren. Richtig gut!

Ihre Einladung zum Abendessen nehme ich genauso gerne an wie die zum Frühstück am nächsten Morgen. 

Vielen Dank Euch beiden, ich habe mich richtig wohl gefühlt.


26. bis 30. Juni

26. Juni

Freudenbach ist heute das Ziel, 20 Kilometer entfernt. Für Füße, Beine und Hüften ist so eine Etappe mittlerweile kein Problem mehr. Schwierigkeiten machen mir diese Tage die Hitze (nahezu ohne Schatten am Weg) und die Schultern. Nach rund 10 Kilometern wird es regelmäßig unangenehm, besonders die linke Schulter schmerzt. Die hat schon immer ein wenig gezickt, jetzt schmerzt zum einen die Verspannung - gegen die helfen lockernde Bewegungen, wenigstens zeitweise und ein bisschen - und zum anderen sind es die Gurte des Rucksacks, die unangenehmen Druck ausüben. Dagegen habe ich noch kein richtiges Mittel gefunden, auch wenn ich die Einstellungen des Rucksacks immer wieder ändere. Die Gurte sind einfach zu schmal, das Gewicht wird nicht richtig verteilt.

Es gibt in Freudenbach einen Ferienhof, den habe ich mir zu übernachten ausgesucht. Leider werden wir telefonisch nicht einig, ich soll es mal beim Sonnenhof probieren. Eine freundliche jung wirkende Frau erklärt mir dort, dass sie nur Ferienwohnungen haben, und die vermieten sie nicht für eine Nacht, was ich gut verstehen kann. Sonnenhof klingt für mich nach viel Platz. Die Erfahrungen mit den 1nitetentern machen mich mutig und ich frage, ob auf dem Hof nicht Platz wäre, damit ich mein Zelt dort aufstellen kann. "Och, das müsste schon gehen, kommen Sie einfach vorbei, ich spreche mit meinem Mann", ist die Zuversicht verströmende Antwort. Gleichwohl stelle ich mich auf weiterwandern und wild campen ein, denn in einer Entfernung, die ich heute noch bewältigen könnte, gibt es keine andere Unterkunft.

Als ich am Sonnenhof ankomme, stehen davor drei Personen. Wie sich herausstellt, sind es das Paar, dem der Sonnenhof gehört, Christiane und Hans Georg, und ein befreundeter Landwirt. Wir sind gleich per Du und unterhalten uns zunächst ein wenig über meine Tour. Der Schweiß rinnt, der Rucksack zieht und drückt, was er kann. Dann beschließt Hans Georg, dass ich das Zelt nicht benötigen werde, ich darf in ihrem Bauwagen schlafen. Das ist richtig gut, denn es spart mir nicht nur den Auf- und Abbau, sondern ich brauche mir auch keine Sorgen wegen des Regens zu haben, den ich noch befürchte.

Hans Georg eröffnet mir, dass sie heute noch Heu einbringen werden für die Ziegen und Schafe. Die halten die beiden als Haustiere, genauso wie einige Katzen und eine Schar Hühner mit Hahn. Der Hahn sei sehr gut zu den Hühnern, erfahre ich. Er greift durchaus schon mal Eindringlinge an, schart seine Damen unter einem Baum zusammen, wenn er einen Greifvogel am Himmel sieht, und überlässt ihnen großzügig besondere Leckerlis, wenn es welche gibt. Er wird wissen, warum er das macht ...

Allerdings verdienen Christiane und Hans Georg mit den Tieren kein Geld. Außer den Eiern "nutzen" sie sie auch nicht. Hans Georg verdient mit seiner Selbstständigkeit offensichtlich ausreichend: Er ist der Nachtwächter von Rothenburg ob der Tauber. Will heißen: Er macht zwei Stadtführungen an fünf Abenden in der Woche, 9 Monate im Jahr.

Jedenfalls biete ich spontan meine Hilfe an und so sitzen wir zu viert im Pickup: Hans Georg fährt, Anna, die Angestellte des Hofes, Christiane und ich hinten auf der Ladefläche. Die Feldarbeit macht richtig Spaß, und da noch ein paar Leute dabei sind - der Landwirt, der mich bei meiner Ankunft ebenfalls begrüßt hat, stapelt die Heuballen auf dem Anhänger; seine Frau fährt den Trecker; der Enkel verfrachtet die meisten Ballen auf den Hänger - sind wir bald fertig. Zum Glück vor dem erwarteten Regen. Mit einem Blick in den Himmel fragt Hans Georg den Bauern, ob es wohl um 8 Uhr oder 9 Uhr regnen wird. Die Antwort ist, dass da heute nichts mehr passiert. Ich bin da skeptisch, wage allerdings keinen Widerspruch. Dafür freue ich mich an der frischen Luft, die der Regen bereits um 19 Uhr heranspült.

 

27. Juni

Als ich am Morgen zur Dusche gehe, finde ich ein Tablett mit einem Apfel, zwei gekochten Eiern, Kaffee, Milch und einer sehr netten Karte. Zum Glück habe ich eine passende Postkarte dabei. Ich schreibe schnell eine Dankesantwort und mache mich auf den Weg. Rothenburg ob der Tauber wird heute die Endstation sein.

Die Wanderung läuft einen großen Teil entlang des Taubertals. Es ist richtig schön hier. Rechts von mir zieht ein Gewitter vorbei. Vor dem bisschen Regen, dass es auf mich abgesehen hat, kann ich rechtzeitig in eine Bushaltestelle flüchten. Das gibt mir auch Gelegenheit zu frühstücken.

Während es im Taubertal eher flach zugeht, fordert mich der letzte Anstieg nach Rothenburg noch einmal. Die Anstrengung lohnt sich, Rothenburg ist richtig nett und ich freue mich auf den freien Tag morgen. Heute steht nur noch das Einchecken im Hotel auf der Tagesordnung. Der Wirt ist ausgesprochen freundlich und entspannt. Er empfiehlt mir ein paar Sehenswürdigkeiten in der Stadt und die Nachtwächterführung. Ich erzähle ihm voller Stolz, dass ich gestern beim Nachtwächter geschlafen habe. "Bei Hans Georg? Das ist mein Schwager, Christiane und meine Frau sind Schwestern", verblüfft er mich. Die Welt ist manchmal auch während einer großen Reise klein.

Nachdem Schmalhans in den letzten zwei Tagen Küchenmeister bei mir war, beschließe ich, dass es Zeit ist, mir mal wieder etwas richtig Gutes zu gönnen, zum ersten Mal seit mich Anfang Mai die Lammkeule kulinarisch beglückte. Heute wird es ein hervorragender Rostbraten mit ausgezeichnetem Gemüse. Danach ist Zeit fürs Bett.

 

28. Juni

Der Pausentag in Rothenburg tut mir gut. Ausgiebig frühstücken, bummeln, Kaffee trinken, auf der Stadtmauer spazieren, die Innenstadt bewundern - all das absolviere ich schön langsam und ohne Ziel.

 

29. Juni

Dass ich an unserem Hochzeitstag alleine durch Deutschland wandere, war nie geplant. Ich werde meine Traurigkeit fast den ganzen Tag nicht los, sie verliert sich erst am Abend ein wenig. Das liegt an meinem Schlafplatz für heute Nacht. Ich hatte Gisela angerufen, eine von zwei Dachgeberinnen in Rohrbach. Sie sei zwar nicht zu Hause, aber ihre Tochter Esther wohne direkt nebenan und sie könne mich in den Garten lassen. Die Wanderung zu Esther wird eine ziemliche Tortur, denn es ist der bislang heißeste Tag des Jahres. Ich brauche öfter Pause und trinke sogar ganz gegen meine sonstige Gewohnheit ein eiskaltes, koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk. Und das tut sogar richtig gut. Die leere Flasche behalte ich, sie erlaubt es mir in Zukunft, einen weiteren halben Liter Wasser mitzunehmen.

Als ich bei Esther ankomme, sind die Strapazen schnell vergessen. Wir sind gleich per Du. Sie zeigt mir den Garten, der ein wildes Paradies ist. Zwei ihrer drei Kinder toben im Pool, und es ist völlig egal dass das Wasser gekippt und grün ist.

Ich schlage mein Zelt unter einem Birnbaum auf, Esther bringt mir noch eine alte Bierbankgarnitur, und so habe ich ein Esszimmer und ein Büro. Mit dem Pool als Wellnessbereich und einem Wohnzimmer mit offenem Kamin (ein Sofa an der Grillstelle) ist der Garten meine bisher am üppigsten ausgestattete Schlafstelle.

Am Abend leistet Esther mir noch Gesellschaft. Wir unterhalten uns lange, und Esther beeindruckt mich. Sie erzieht ihre drei Kinder alleine, macht nebenher eine Ausbildung zur Atemtherapeutin und plant ihre Selbstständigkeit. Ich wünsche Dir, liebe Esther, alles Gute und bin sicher, dass Du alles schaffst, was Du Dir vornimmst.

 

30. Juni

Nach einem Abschiedskaffee geht es hinaus in das heute ganz andere Wetter: Es ist kühler, bewölkt, windig und es regnet ab und zu. Das ist viel angenehmer als gestern und vorgestern. Ansonsten ist die Etappe heute unspektakulär, bis ich auf einmal vor drei identischen Autos stehe. Drei Opel Kadett B. Das war mein erstes Auto, und deshalb freue ich mich immer, wenn ich einen sehe. Und jetzt stehen da gleich drei auf einmal! Allerdings sind sie alle in einem jämmerlichen Zustand. Bestimmt könnte man einen gut funktionierenden und gut aussehenden Wagen daraus machen. Dazu hätte ich sogar Lust, wenn auch keine Ahnung, wie das gehen sollte. Ich hoffe, dass das der Plan des Besitzers ist.

In Crailsheim beziehe ich wieder ein Hotel und dekoriere mein Zimmer mit Zelt und Luftmatratze. Kaum bin ich fertig damit und mit Duschen, fängt es richtig zu regnen an. Unterwegs war der Regen noch harmlos, jetzt bin ich froh, schon in der Unterkunft zu sein.